Nicht immer ist es leicht, freudvoll darüber zu sein, was wir uns selbst Gutes tun können. Wir ziehen Vergleiche zu unseren Wegbegleitern, blicken zurück zu unseren Wurzeln und orientieren uns nicht selten an vererbten Selbstbildern. Dabei könnten wir heute viel glücklicher leben, als wir es uns selbst erlauben.

Ich fahre einen guten Mittelklassewagen, obwohl mein Vater eine schrottige Rostlaube fährt. Ich habe in meinem Single-Haushalt monatlich fast doppelt so viel Einkommen zur Verfügung, als wir einst als fünfköpfige Familie hatten. Ich zeige mich frisch verliebt, während meine beste Freundin sich in Liebeskummer suhlt. Ich gönne mir eine Auszeit, selbst dann, wenn mein Partner fast in Arbeit erstickt. Ich bin glücklich und genieße mein Leben. Und das, obwohl mein Umfeld das nicht immer kann.

Meine Insel, deine Insel

Wir alle streben nach einem glücklichen und zufriedenen Leben und doch tun wir uns manchmal ganz schön schwer damit, diesen Genuss wirklich auszuleben. Insbesondere dann, wenn es uns nahe stehenden Menschen schlecht geht, nimmt das verständlicherweise auch uns mit. Wir hören uns die Sorgen von Familie, Partnern, Kindern und Freunden an, reden gut zu, helfen wo wir können, möchten unserem Gegenüber zumindest das Gefühl geben, jederzeit für ihn da zu sein. Das Leid der anderen lässt sich eben nur schwer selbst ertragen. Und geteiltes Leid ist ja schließlich auch halbes Leid. Wir sind eben loyale Wesen. Anteilnahme und Unterstützung sind wichtige Brücken zwischenmenschlicher Beziehungen. Einerseits vermitteln sie dem anderen die Sicherheit, mit seinen Sorgen nicht allein zu sein. Uns selbst geben sie das warme Gefühl, etwas Gutes getan zu haben. Geben tut grundsätzlich beiden Seiten gut. Das funktioniert so lange, wie wir selbst aus dem Vollen schöpfen können. Aber auch jeder Helfertopf ist irgendwann einmal leer. Erkennen wir dann unsere Grenzen, bevor wir unseren eigenen Topf anzapfen müssen? Nicht immer. Wir geben weiter und weiter, versuchen Lösungen für andere zu finden und machen damit fremde Probleme zu unseren eigenen. Wir verstricken uns in MitLEID und wandern immer mehr auf die Insel des anderen, anstelle dort zu bleiben, wo wir eigentlich hingehören: Auf unserer eigenen.

Loyalitätsbindungen

Ob Mutter, Vater, Geschwister, Kinder, Lebenspartner oder enge Freunde – Loyalitätsbindungen sind starke Verbindungen und gehen meist mit der stillen Überzeugung einher, dass es uns selbst nicht gut gehen darf, wenn es den anderen nicht gut geht. Sind solche Bindungen über Jahre gewachsen, kann es mitunter sehr schwierig sein, diese wieder aufzulösen. Sie werden immer mehr zum Hemmschuh unserer Selbstfürsorge. Wer erfreut sich schon gerne seiner Selbst in unglücklicher Gesellschaft, vielleicht sogar unter den Blicken von Neid und Missgunst?

Erfahrungen mit Genuss und körperlichem Wohlbefinden beginnen, uns ein schlechtes Gewissen zu bescheren, die aus dem Schuldgefühl resultieren, etwas Verbotenes für sich zu beanspruchen: Mehr Gesundheit, mehr Geld, mehr Liebe, mehr Freude oder Zufriedenheit. Vielleicht ertappen wir uns manchmal auch dabei, künstlich ein Drama zu inszenieren, um mit den anderen im Gleichklang zu sein. Wir beginnen uns unbewusst anzugleichen, um den Kontrast zwischen „mir geht es gut“ und „dir geht es nicht gut“ zu reduzieren. Ginge es uns besser oder gar gut, könnten neidische Bezugspersonen dies vielleicht nur schwer ertragen, würden sich im schlimmsten Fall von uns abwenden, sich zurückziehen und uns verlassen. Sie zu beschwichtigen, um ihren realen oder auch nur fantasierten Neid zu mildern, gewinnt immer mehr an Bedeutung während unsere Selbstfürsorge zunehmend in den Hintergrund rückt.

Für sich selbst sorgen

In erster Linie bedeutet Selbstfürsorge „sich selbst etwas zu nehmen“. Die Scheu, sich etwas zu gönnen, kann Ausdruck einer Angst vor dem eigenen, unstillbaren Verlangen sein, alles das haben zu wollen, was in der Vergangenheit entbehrt werden musste. Für sich selbst gut zu sorgen, setzt voraus, dass wir unsere eigenen Bedürfnisse und Wünsche erst einmal spüren können und es uns erlauben, nehmen zu dürfen. Dazu braucht es ein starkes Gehör für sich selbst. Das können wir verständlicherweise nicht entwickeln, wenn wir mit unseren Ohren stets bei den anderen sind.

„Ich möchte gut zu mir sein“ – ein wesentlicher Aspekt der Selbstfürsorge ist die Selbstachtung. Nicht immer haben wir eine angemessene Selbstachtung erlernt, vielleicht weil wir sie nie erfahren haben oder aber sie wurde durch prägende Ereignisse erschüttert. Es kann hilfreich sein, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass wir Glück, Genuss und Wohlbefinden verdient haben. Wir haben ein Recht darauf, unsere Grenzen zu ziehen, wenn uns etwas nicht gut tut. Wir haben das Recht, uns von jemandem abzuwenden, der uns nur Energie raubt. Ja, wir dürfen glücklich sein, selbst dann, wenn anderen dieser Zustand verwehrt bleibt oder sie ihn sich sogar selbst verwehren. Ein Kontakt oder eine Situation belastet uns? Wir dürfen uns um uns selbst zu kümmern. Ein „Nein“ an andere bedeutet immer auch ein „Ja“ an uns selbst.

Glück ist unabhängig

Jeder ist so glücklich, wie er sich selbst vornimmt zu sein. Klingt eigentlich ganz einfach und doch legen wir unser Zepter ganz schön häufig in fremde Hände. Wir wünschen uns eine Änderung in unserem Umfeld, suchen Schuldige, die unserem Glück bisher im Weg gestanden haben, wir beschweren uns über jene, die unseren bisherigen Lebensweg beschwert haben. Wir machen uns schlicht abhängig – von Menschen, Umständen oder Erlebnissen. Gleichzeitig vergessen wir aber, dass wir bereits alles in uns tragen, was es für unser Glücklichsein braucht: Ein „Ja“ zum Leben. Freude an uns selbst. Und ein Mindestmaß an Selbstverantwortung.

„Die habe ich doch längst übernommen“ mögen sich nun manche sagen hören. Ist dem wirklich so? Selbstverantwortung zu übernehmen ist weniger ein konkreter Handlungsakt für den Moment als vielmehr eine Art der Lebenseinstellung, die sich in all unseren positiven wie auch negativen Begegnungen mit Menschen und Situationen widerspiegelt. Selbstverantwortlich zu handeln und zu fühlen bedeutet, sich stets bewusst zu machen, dass alles, was wir momentan in unserem Leben haben, ausschließlich ein Resultat aus vergangenen (eigenen) Gedanken und Handlungen ist, die wir jederzeit frei wählen konnten. Häufig jedoch geben wir anderen die Schuld an unserem Leid und unserer inneren Unzufriedenheit, und übergeben ihnen damit automatisch auch die Macht über unser Leben. Dabei könnten wir so viel mehr sein: Ein Schöpfer.

Dass wir jederzeit selbst die Wahl haben und Gedanken, Gefühle, Handlungen, Menschen oder Situationen in unser Leben einladen oder auch ausladen können, mag uns vielleicht nicht immer gleich bewusst sein. Wir werden verlassen und verlieren einen nahestehenden Menschen durch Trennung oder Tod, wir werden krank, verlieren unseren Job, werden beleidigt oder verletzt – in Momenten wie diesen fühlen wir uns schlicht ohnmächtig. Wir ärgern uns, bemitleiden uns, fühlen uns schlecht behandelt und glauben an die Ungerechtigkeiten dieser Welt. Zweifelsohne gibt es keinen Schutz vor Verletzungen, Enttäuschungen oder Angriffen. Worauf wir aber Einfluss haben ist unser Umgang damit. Welche Brille setzen wir uns heute auf? Es ist hilfreich, sich in belastenden Situationen vor Augen zu führen, dass wir jeden Tag die Chance haben, altes neu zu sehen.

Gesunder Egoismus

Der Volksmund spricht von Egoismus, wenn jemand nur an sich selbst denkt. Wohl jeder mag schon einmal mit dem Vorwurf konfrontiert worden sein, er sei egoistisch. Das ist oft eine sehr persönliche, nicht selten manipulative Behauptung. Jemand versucht dem anderen Schuldgefühle einzureden mit dem Ziel, dass dieser seine Interessen zurück steckt und wir unseren Vorteil daraus ziehen. Zu sagen „Du bist egoistisch“ ist also in höchstem Maße selbst egoistisch. Grundsätzlich aber ist Egoismus nichts Schlechtes. Wie könnten wir anderen wirklich etwas geben, wenn wir selbst noch nicht genug für uns haben? Wir können nur aus der eigenen Fülle schöpfen. Niemand profitiert davon, wenn wir uns aufopfern, resignieren, erschöpfen und unserem Leben immer weniger Freude abgewinnen. Dahingehend wirkt jemand, der voller Zufriedenheit und Lebensfreude ist, überaus anziehend und erheiternd auf seine Umwelt. Gesunder Egoismus ist also weniger der ausschließliche Blick auf uns selbst als vielmehr das Bedürfnis, sich selbst zu achten und zu ehren, unser Seelenleben zu kräftigen und unserem Körper die Aufmerksamkeit zu schenken, die er braucht. Nur wenn es uns selbst gut geht, kann es auch anderen gut gehen.

Wenn wir also morgen früh aufwachen, beginnen wir unseren Tag doch einmal mit einer anderen Frage als sonst: Wie kann ich mich heute selbst genießen und was kann ich mir hierfür Gutes tun?

Dieser Artikel stammt aus dem AUSZEIT-Magazin.

Bildquellen: © Sabrina Lieb