Wer bin ich? Wer mir beim Essen zuschaut und somit weiß, was ich esse, der weiß auch, wer ich bin. Sagt man. Ist es wirklich so? Was sagen unsere Essgewohnheiten über uns aus? Und können wir sie einfach auf den Kopf stellen?

Essen, ob alleine oder zusammen mit lieben Menschen zelebriert, ist ein Ritual, das den Tagesablauf struktuieren kann und Kraft schenkt. Wenn achtsam Mahlzeiten zu sich genommen werden, wird das Essen weg von der bloßen Nahrungsaufnahme zu einer Lebensphilosophie. Doch mit dem Genießen ist das so eine Sache geworden. Lebensmittelskandale verunsichern genauso, wie die immer länger werdenden Listen von Zusatzstoffen. „Fast Food“ scheint manchem genauso alternativlos, wie es die dann folgenden gesundheitlichen Konsequenzen auf jeden Fall sind. Dabei sind wir uns über diese Folgen eigentlich schon vorher im Klaren, denn es herrscht eine wahre Informationsflut an medizinischer Aufklärung, auch über gesunde Alternativen.

Die Diäten der Reichen und Schönen versprechen eine Blitzabnahme, Low Carb merzt die bösen Kohlenhydrate aus und macht gesund und schlank für immer, vegan schützt die Rechte der Tiere und Bio ist sowieso am besten, auch fürs Gewissen. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit wurden wir so sehr definiert über das, was wir essen oder eben nicht essen. Bestimmt die Nahrung, die wir zu uns nehmen tatsächlich unseren Charakter? Oder ist es genau umgekehrt? Gibt es Wege, zwischen Diät und Fertiggerichten zu einer natürlichen, ganz individuellen Lust am Essen zurückzufinden ohne permanent ein schlechtes Gewissen zu haben?

Sind die Gene schuld?

Essgewohnheiten sind nicht angeboren, sie werden hauptsächlich durch das Umfeld gesteuert. Allerdings gibt es gewisse Tendenzen. So bevorzugen neugeborene Kinder auf der ganzen Welt die Geschmacksrichtung süß. Nicht nur, weil Muttermilch süß schmeckt. Die Vorliebe ist von der Evolution raffiniert eingefädelt, denn es gibt keine süß schmeckende Pflanze, die gleichzeitig giftig ist. Zu gewissen angeborenen Geschmacksvorlieben kommt die Prägung durch die Mutter, denn deren Essgewohnheiten beeinflussen auch den Geschmack des Kindes, das die verschiedenen Lebensmittel durch die Nabelschnur und das Fruchtwasser indirekt kennen lernt. Ernährt die Mutter sich ausgewogen, wird auch das Kind später kein heikler Esser werden.

Allerdings konnten Mütter nicht zu allen Zeiten so eine breite Geschmackspalette anbieten. Das Nahrungsangebot unserer Vorfahren war recht spärlich. Ernährt wurde sich von dem, was die Jahreszeit hergab und gesammelt werden konnte. Also Wurzeln, Nüsse, Samen und ein paar Wildfrüchte. Fleisch musste gejagt werden. Durchschnittlich legte ein prähistorischer Mensch 20 km am Tag zurück auf der Suche nach Nahrung, vor allem das Jagdglück war ihm nicht immer hold. Zucker und Getreide standen damals nicht auf dem Speiseplan. Unterschiedlicher zu heute kann das damalige Ernährungskonzept nicht sein, dabei hat sich unser genetischer Bauplan während der letzten 10 000 Jahre nicht verändert.

Kulturelle Prägung

Statt die Nahrung zu suchen, die zu unserem Körper und Stoffwechsel passt, essen wir heute, was uns angeboten wird. Die unterschiedlichen Geschmäcker der verschiedenen Kulturen sind bekannt, selbst in unserer globalisierten Welt reagieren wir oft genug auf unbekannte Gerichte mit Ablehnung: „Was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht“, ein immer wieder gern zitierter Spruch. Herkunft und Familie prägen unsere Vorlieben maßgeblich. Das betrifft nicht nur die Frage, was und wieviel davon auf den Tisch kommt. Entscheidend ist auch die Umgebung. Ist der Tisch ansprechend gedeckt? Läuft der Fernseher? Gibt es bei Tisch anregende Gespräche?

Die Abläufe rund ums Essen sorgen dafür, dass Lebensmittel nicht nur konsumiert, sondern bewusst erlebt werden. Innerhalb dieses fest gesteckten Rahmens entwickeln sich zwar individuelle Vorlieben und Abneigungen, aber Kinder ahmen in der Regel die Erwachsenen nach, da sie durch Beobachtung lernen. Auch soziale Normen entwickeln sich durch die gemeinsame Tischkultur.

Allerdings ist die Familie ja nicht der einzige Bezugspunkt, wenn es um die Essgewohnheiten geht. Das beginnt damit, dass man sich bei Freunden nicht selten mit den Dingen vollstopft, die zuhause eher verpönt oder gar verboten sind. Später beeinflussen uns dann die Essgewohnheiten der Mitschüler und Kommilitonen, die Angebote in den Kantinen und – für alle Altersgruppen – die omnipräsente Werbung für Lebensmittel, die nicht selten genauso ungesund wie schön anzusehen sind.

Typenlehre

Ernährungspsychologen können aus der Art, wie wir uns ernähren, Rückschlüsse auf den Charakter ziehen. Sie sprechen von Esstypen. Frustesser langen stets über Bedarf zu, vor allem, wenn es stressig oder die Laune im Keller ist. Unerwünschte Gefühle werden so gedämpft, klassisches Beispiel ist die Frau, die ihren Liebeskummer mit Unmassen an Schokolade bekämpft. Der Esstyp Sensationssucher sucht stets nach neuen Rezepten und geschmacklichen Herausforderungen.

Auch im Privatleben wird immer gerne nach dem Kick gesucht. Zur Gruppe der Health-Food-Junkies zählen meist Vegetarier und Veganer. Ständig wird nach dem gesündesten Essen gefahndet und bestimmte Ernährungskonzepte sind Pflicht. Dieser Typ neigt zur Besserwisserei und schreibt anderen gerne vor, was sie zu machen haben.

Gesundesser sind meistens weiblich, achten auf eine ausgewogene Versorgung mit Nährstoffen und viel Obst und Gemüse. Diese Typen gelten als unkompliziert, offen und kompromissbereit. Bio macht laut den Forschern nicht den besseren Menschen. Wie Studien gezeigt haben, ist dieser Esstyp geizig, engstirnig, intolerant und neigt sogar zum Lügen.

Der Schnellschlinger ist im Grunde ein alter Hut der Evolution, denn früher blieb meist keine Zeit zum Essen. Ein Phänomen, das auch die heutige Stressgesellschaft kennt. Genießer nehmen sich Zeit für jede Mahlzeit, komme, was wolle. Sie gehen achtsam und entspannt durchs Leben, da sie sich auf das Wesentliche konzentrieren können. Und Gourmets machen genau das zu ihrem, oft sehr kostenintensiven Lebensstil.

Kulinarische Romantik

Wenn wir feste Tischrituale als Kinder gewohnt waren, fällt uns das auch leicht, diese in Gesellschaft beizubehalten oder wenn mit einem Partner zusammengelebt wird. Doch in Singlehaushalten ist es oftmals nur mau um die Tischkultur bestellt. Die Antworten, warum auf der Couch vor dem Fernseher aus dem Pizzakarton gegessen oder die Büchse aufgewärmt wird, ähneln sich in der Regel. „Warum soll ich mir den Stress für mich alleine machen?“ oder „Es sieht mich doch sowieso niemand!“.

Sobald sich jedoch eine neue Beziehung anbahnt, wird das Essen geradezu verklärt. Dates müssen im romantischsten Restaurant der Stadt stattfinden und bei privaten Einladungen wird der Tisch fein gedeckt, es werden Kerzen aufgestellt und sanfte Hintergrundmusik aufgelegt. Dabei ist ein „romantisches Essen“ eigentlich der falsche Begriff. Romantisch oder besser gesagt, das, was die Gesellschaft als solches definiert, sind eher das Ambiente und die Erwartungen. Werden die Gefühle zwischen zwei Menschen wirklich intensiver, nur weil ein Gourmetmenu statt einer Tiefkühlpizza auf dem Teller serviert wird?

Wenn Gefühle im Spiel sind, scheint es trotz allem nicht nebensächlich zu sein, was gekocht wurde. Denn das kredenzte Essen oder das ausgewählte Lokal erlauben, Rückschlüsse auf den Charakter des Gegenübers zu ziehen. Deshalb bestellen sich auch die figurbewusstesten Frauen beim Date nicht ihren üblichen Salat, schließlich will man als Genießer gelten und somit mehr oder weniger direkt über das Essen auf andere Qualitäten hinweisen.

Ess-Stress

Essen zu genießen ist jedoch etwas, das zwischen Dauerreinstopfen und Diätwahn den meisten immer schwerer fällt. Wir hören und lesen überall von gesunder Ernährung und dem neuesten Superfood. Natürlich wissen wir, dass wir täglich frisch, saisonal und lokal kochen sollten, doch dann landet wieder die Pastasauce aus dem Glas über den Spaghetti. Im Internet speichern wir Seiten, die uns verraten, wie wir gesunde Süßkartoffelsnacks machen und am Abend geht der Griff doch wieder in die Chipstüte. Irgendwann kneifen die Hosen, wir starten die nächste Diät, kasteien uns dabei und teilen Lebensmittel in gut und schlecht ein. Wir essen nicht, was wir wollen, sondern das, was vernünftig erscheint. Schließlich wollen wir schlank sein und unserer Gesundheit etwas Gutes tun. Die Spannungen aus diesem inneren Konflikt lösen sich allzu oft in Heißhungerattacken. Wollen wir uns das ganze Leben verrückt machen und vom Essen terrorisieren lassen?

Achtsam genießen

Kurz gesagt, bedeutet Achtsamkeit so viel wie bewusst im gegenwärtigen Augenblick zu leben, nicht zu urteilen und den Autopiloten des Alltags auszuschalten. Achtsames Essen bedeutet demnach, ohne Kalorienzählen und schlechtes Gewissen sich ganz bewusst beim Essen wahrzunehmen, sich aber für das, was auf dem Teller liegt, nicht zu verurteilen. Beim achtsamen Essen orientieren wir uns weg von all den Diätratgebern, Kalorientabellen und Ernährungsempfehlungen hin zu den Signalen unseres eigenen Körpers. Damit haben wir den ersten Schritt zu der für uns optimalen Ernährung getan. Achtsamkeit lehrt uns, bei unseren Lieblingsgerichten nicht einfach hemmungslos alles in uns hinein zuschaufeln, sondern den Geschmack des Momentes zu hinterfragen. Wenn wir so essen, erhält unser Körper nicht nur das, was er benötigt, sondern wir verbessern auch unsere Selbstwahrnehmung und fühlen uns in unserer Mitte.

 

Dieser Artikel stammt aus dem AUSZEIT-Magazin, das noch viele weitere tolle Themen für Euch bereithält.

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Bildquellen: Photo by Jelleke Vanooteghem on Unsplash