Unsere Innenstädte sind vor allem eines: hektisch und laut, eben voller Leben. Abschalten fällt da manchmal schwer. Und dann gibt es da diese kleinen Inseln der magischen Ruhe, mittendrin im Geschehen. Eine Kirche. Wir müssen nur die Tür öffnen.

Wer kennt es nicht? Wenn man durch die Stadt streift, ganz gleich ob zu Hause oder in der Fremde, ist es geradezu unmöglich, das beständige Hintergrundrauschen auszublenden, das mittlerweile zum festen Bestandteil unseres Alltags geworden ist. Ein bellender Hund, hupende Autos, die zahllosen in ein Gespräch vertieften Menschen, klingelnde Handys, jauchzende Kinder und aus den Geschäften schallende Radios – an jeder Ecke wartet ein neues akustischen Signal, das zwar oftmals nur unterbewusst registriert, doch aber von unserem Kopf verarbeitet wird. Unseren Ohren ist eigentlich so gut wie nie eine Pause vergönnt.

So wichtig dieses betriebsame Summen für unseren Bienenstock auch ist – immerhin gewinnt er dadurch auch einen großen Teil seiner Lebendigkeit – gibt es doch immer wieder Momente, in denen wir ihm am liebsten entfliehen würden. Einfach kurz auf Pause drücken und einen Moment tief durchatmen ehe man sich wieder ins Getümmel wirft. Eine verlockende Vorstellung, von der wir oft nur zu träumen können glauben. Dabei ist sie gar nicht so schwer zu realisieren. Denn es gibt Orte, an denen das von ganz allein passiert. Ganz ohne unser Zutun.

Durch die Tür

Wer nun glaubt lange suchen zu müssen irrt, denn es gibt sie im Grunde überall. Schon von ferne locken Türme mit Glockengeläut oder prachtvollen Kuppeln. Sie weisen uns den Weg. Mich zieht es nicht in die Kirche, weil ich an eine höhere Macht glaube, die mein Leben lenkt und deren Gegenwart, Trost oder Führung ich suche. Ich glaube nicht an Gott, doch ich bewundere, was seine Diener vor teils vielen hundert Jahren zu seinen Ehren erschaffen haben. Und obwohl ich in meinem Leben schon so einige Kirchen besucht habe, ist es nach wie vor faszinierend, welche Wirkung so ein Bau selbst auf einen nicht-gläubigen Menschen hat.

Öffnet man die Tür der Kirche, lässt man das Hier und Jetzt hinter sich. Man betritt nicht nur irgendein Gebäude. Kaum hat man die Schwelle überquert, bleiben alle Hektik und aller Lärm einfach draußen zurück. Als hätte man sie an der Garderobe abgegeben wie einen Mantel. Es ist plötzlich eigentümlich still. Ein Zustand, den man sich wenige Minuten zuvor auf den belebten Straßen und Plätzen kaum vorstellen konnte.

Ehrfurcht

Seltsam, oder? Man hat sich eigentlich nur wenige Meter fortbewegt und doch fühlt es sich an, als hätte man eine ganz andere Welt betreten. Eine Welt, die nicht nur ohne ständiges Hintergrundrauschen auskommt, sondern in der sich auch die Akteure mäßigen. Und dabei ist das oftmals gar keine bewusste Handlung, es passiert einfach von ganz allein. Gespräche werden zu einem leisen Flüstern oder verebben ganz. Handys werden höchstens für ein paar Fotos herausgeholt, telefoniert wird nicht. Niemand flitzt eilig durch die Gänge, niemand ruft lautstark quer durch das Kirchenschiff nach einem Bekannten.

Selbst Kinder schalten einen Gang zurück. Auch wenn es dafür manchmal erst einer Aufforderung durch die Eltern bedarf: Die Kleinsten merken ebenfalls, dass sie an einem besonderen Ort sind, dem es Respekt zu zollen gilt. Es ist wie ein ungeschriebener Codex, an den sich jeder hält. Ob Jung oder Alt, ob schüchtern oder extrovertiert – die Ehrfurcht gebietende Erhabenheit einer Kirche lässt kaum einen Besucher unberührt.

Eine Geschichte

Für mich ist es dabei oftmals das Mauerwerk der Kirche selbst, das mir diesen Respekt abnötigt. Denn kaum hat man einen Fuß in das Hauptschiff gesetzt, wird man von der schieren Größe des Raumes eingefangen. Es geschieht schon fast zwangsläufig, dass man als erstes den Kopf in den Nacken legt und nach oben schaut. An den starken Pfeilern entlang, die dicker als jeder Baum zum großen Teil die Last des Daches tragen, über die teils mit Buntglas bestückten Fenster zu den aufwendig gestalteten Deckenfresken empor. Und auch wenn man für die biblischen Szenen und Schriften inhaltlich nur wenig übrig hat, kann man doch kaum anders, als die Meister und ihre Gehilfen zu bewundern, die vor so vielen Jahren auf einem Gerüst gestanden und genau diese Szenen mit dem Pinsel zum Leben erweckt haben.

Wir sehen uns heute täglich so viele Bilder an. Flüchtige Momente auf Fotos festgehalten, die doch nur selten einen besonderen Wert haben. An diesen Wänden ist das anders. Über Monate und Jahre haben ihre Erschaffer an den Bildern gearbeitet, die nicht nur schön aussehen und besondere Episoden der Bibel präsentieren, sondern gerade auch der analphabetischen Bevölkerung ganze Geschichten durch bestimmte Abfolgen erzählen sollten.

Eine Kirche als kleine Bibliothek – das klingt erstmal etwas seltsam, doch in Zeiten, in denen nur sehr wenige Menschen lesen konnten, musste man andere Wege einschlagen. Und da Bilder von jedem verstanden werden, bediente man sich einfach der Bildsprache, um den Menschen die Bibel und ihre Akteuere näher zu bringen. Dabei geschieht fast nichts grundlos in diesen Werken, jede Figur und jeder Gegenstand hat eine Bedeutung und erzählt einen Teil der Geschichte. Selbst ein Apfel auf einem Fensterbrett ist mitunter mehr als nur ein abgelegtes Stück Obst. Und der Betrachter muss sie enträtseln.

Den Gedanken nach

Also setze ich mich in eine Kirchenbank und schaue nach oben. Ich versuche zu verstehen, was mir dort gezeigt wird, suche nach Figuren, die auf den einzelnen Bildern mehrfach auftauchen, nach einem Zusammenhang. So wie wohl auch viele andere Menschen vor mir, die teils vor vielen hundert Jahren auch in dieser Kirche Platz nahmen oder standen, um sich genau diese Geschichte erzählen zu lassen. Die Stille macht es dabei möglich, sich völlig ins Geschehen zu vertiefen. Nichts lenkt einen ab, man kann die Gedanken schweifen lassen.

Da ich mich mit den zahllosen Protagonisten der Heiligen Schrift nicht auskenne, entsteht in meinem Kopf sicherlich ein falsches Bild von der Szenerie. Doch das macht nichts. Es hilft trotzdem, den permanenten Strom von Gedanken auszubremsen und einen Moment durchzuatmen.Vielleicht geht es den Gläubigen im Gebet ähnlich, wenn sie nicht gerade in einem Moment der Verzweiflung mit einer konkreten Bitte niederknien? Vielleicht finden auch sie auf diesem Weg eine Möglichkeit, ihre Gedanken zu ordnen? Ich weiss es nicht. Doch die Atmosphäre in den alten Gemäuern macht es einem leicht, genau das zu tun. Sie lädt uns geradezu ein, unseren Geist herunterzufahren und uns zu besinnen. Auf etwas, das uns beschäftigt. Oder auch nur auf die Schönheit dessen, was wir vor uns sehen. Man muss es nur zulassen.

Ein bisschen Magie

Wenn man so darüber nachdenkt, ist es doch eigentlich verrückt, welche Wirkung eine Kirche auf uns hat, selbst wenn wir nicht an die Existenz Gottes glauben. Neue Museen, Einkaufscenter oder auch Sportstadien sind groß und haben oft eine besondere Architektur und doch ist es nicht das Gleiche. Wir staunen, ja, doch die Ehrfurcht fehlt. Es ist vielleicht der kleine Funken Magie, dem sich auch der größte Atheist nicht entziehen kann, wenn er ein Haus Gottes betritt, der Respekt vor einer höheren Macht, die einen zwar nicht selbst berührt, die aber doch für andere so wichtig ist wie die Luft zum Atmen.

Der Respekt vor den Baumeistern von damals, die ganz ohne 3D-Modelle und der raffinierten Software von heute berechnen konnten, was nötig war, um doch solch atemberaubende Gebäude zu errichten. Der Respekt vor den stumm im Gebet versunkenen Menschen, die vielleicht um Hilfe und Beistand bitten und die man nicht stören möchte. Was auch immer es ist, kaum jemand kann sich diesem Funken entziehen. Und das macht Kirchen auch für Ungläubige zu einem faszinierenden Ort.

Zeitlose Kirche

Wie viel Zeit ich im Inneren dieser majestätischen Mauern der Kirche verbracht habe, weiss ich oftmals nicht. Als ob sie ihre Bedeutung verliert. Auf dem Weg zum Ausgang schwillt er dann langsam wieder an, der Lärm der Stadt. Die dicken Mauern schirmen das Innere des Gotteshauses gut ab. Doch sobald man die Tür öffnet, sind sie alle wieder da: Die lachenden und plaudernden Menschen. Die bellenden Hunde. Der allgemeine Straßenlärm und die lauten Rufe nach bereits erwarteten Freunden oder einfach nur dem Bus, der gerade losfahren will. Die erhabene Stille, in der man die vergehende Zeit nur am Rande mitbekommt, lasse ich hinter mir zurück. Doch ich weiss ja, wo ich sie wiederfinden kann.

 

Dieser Artikel stammt aus dem AUSZEIT-Magazin, das noch viele weitere tolle Themen für Euch bereithält und u.a. hier erhältlich ist.

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Bildquellen: Photo by Michael Rodock on Unsplash