Wir schreiben das Jahr 2021. Nicht irgendein Datum, nein es ist der 01.01. Und in meiner Erinnerung ist dieser Tag einer der schwersten, die ich je hatte. Ich stehe am eingefrorenen See, der auf Grund des Lockdowns überfüllt von Menschen ist und muss eine Entscheidung treffen.
Die vielen Menschen, die um mich herum sind, registriere ich nicht mehr. Meine Sinne sind verschwunden. Die vergangenen Monate waren so schwierig. Ich habe mich getrennt, bin ausgezogen und bin mir klargeworden, dass ich nicht mehr in meinen Beruf zurück kann. So vieles ist jetzt anders, ungewohnt und beängstigend. Ich sehe das alles ganz klar. Aber ich bin nicht mehr in der Lage, meine Umwelt klar zu sehen. Später werde ich alles wieder deutlich vor Augen haben und verstehen. Aber an diesem Tag weiß ich nicht mehr, wohin mein Weg gehen soll.
Ich weiß nur, das Alte ist zu Ende und das Neue noch nicht sichtbar. Damals überfordert mich diese Situation. Heute aber erkenne ich, an diesem dunklen Tag, habe ich mich selber neu erfunden.
Das alte Bild von mir neu erfinden
Was bedeutet es, sich selber neu zu erfinden? Ich sehe mich als Leinwand, bemalt von meiner Umgebung. Sie alle haben Ihre Spuren an mir hinterlassen. Ihre Erfahrungen, Ängste und auch Hoffnungen, haben mich gezeichnet. Oder das gezeichnet, was ich sein sollte. Brav, lieb, gehorsam, gehorchend und angepasst. Stets die Bedürfnisse der anderen im Blick. Das Bild das dort entstanden ist, war gefällig.
Nur leider hatte es so gar nichts mit dem wahren Ich zu tun. Irgendwo in mir drin schlief Artemis, was ich aber noch nicht wusste. Und es dauerte sehr lange, bis ich das herausgefunden habe.
Rückblickend stelle ich fest, neu war das alles nicht. Artemis, die jungfräuliche Kriegerin, war schon immer da, ich habe sie nicht neu erfinden müssen. Sie, die Hüterin der Frauen und Kinder, ist die Feministin unter den Göttinnen. Sie steht für die Weiblichkeit und für die Befreiung.
Auf meiner Leinwand sah man zu diesem Zeitpunkt allerdings keine Göttin. Ganz im Gegenteil, ich musste mir eingestehen: Es war am ehesten eine graue Maus.

Die richtigen Entscheidungen, um mich neu zu erfinden
Was also kann eine graue Maus tun um eine Göttin zu werden? Magie wäre hilfreich, aber die Fee kam nicht bei mir vorbei und Harry Potter gibt es nur im Kino. Doch ich wusste, ich muss diesen Weg gehen, und ich wollte es auch. Es blieb also nur der steinige Weg. Was hier so einfach und märchenhaft klingt, war in Wahrheit sehr anstrengend und auch phasenweise sehr schmerzhaft. Ich musste lernen, selber die Entscheidungen in meinem Leben zu treffen. Nicht mehr fremdgesteuert ein Bild für die anderen abzugeben sondern mich zu fragen: „Was will ich?“ und „Wer bin ich wirklich?“
Mein Gute-Vorsätze-Ritual
– Mich selber spüren
– Mich erden in der Natur
– Auch mal Nein sagen
– Bewusster essen und trinken
– Bewusster leben
– Auf mich und meine Energie aufpassen
– Tun, was mir Spaß macht
– Lächelnd die Augen schließen und atmen
Ich lerne mich kennen
Um meine Entscheidungen zu treffen, musste ich mich erst mit meinen Bedürfnissen auseinander setzten. Ich wusste an diesem Tag am See so wenig über mich. Was brauche ich, um glücklich zu sein? Was brauche ich, um zufrieden mit mir zu sein? Was macht mir Freude? Wie darf der andere mich behandeln? Überhaupt das Thema „Grenzen setzen“ war sehr schwierig für mich. Und dann noch die Frage: Wie will ich mich in Zukunft selber behandeln? Wo liegt meine Berufung? Ich habe sehr jung meinen Beruf gewählt. Einen Beruf, der von mir erwartet wurde. Aber er war nie meine Berufung. So viele Fragen stellte ich dem See, doch Antworten musste ich mir selber suchen.

Eine Fee und eine Göttin
Die Fee kam dann doch noch. Zwar anders als erwartet, aber ich musste diesen Weg zu mir selber nicht alleine gehen. Meine Fee war männlich und zum Therapeuten berufen. Ohne seine fast magischen Fähigkeiten, mit denen er mir eine neue Zukunft zeigen konnte, würde ich immer noch die kleine Maus am Seeufer sein. Jetzt wusste ich: Mein zukünftiges Ich wird nicht mehr einer Arbeit nachgehen, die keinen Spaß macht, und die eigene Besonderheit annehmen. Vor allem wird das neue Ich emanzipiert sein, frei die eigenen Entscheidungen treffen können und sich der eigene Schönheit bewusst sein.
Um zu meinem zukünftigen Ich zu gelangen, blieb nur der Weg durch die Vergangenheit. Von meinem Kinder-Ich hin zu der Jugendlichen, die ich einmal war. So viele Situationen und Gefühle kamen hoch, so viel ungelebtes Leben. So viel nachzuholen.
„Mit der Zeit lernt man, seinen Kurs nach dem Licht der Sterne zu bestimmen und nicht nach den Lichtern jedes vorbeifahrenden Schiffes.“
Omar N. Bradley
Mich neu erfinden
Als erstes habe ich das Singen nachgeholt. Ich hätte mich niemals getraut, Karaoke zu singen. Lieber wäre ich im Erdboden versunken. Doch lauthals falsch mitzusingen, befreite mich von den Zwängen meiner Ahnen und ich hatte so unglaublich viel Spaß dabei.
Danach belegte ich einen Töpferkurs, gab es doch einige in unserer Familie, denen Kreativität zugesprochen wurde. In mir hatte sie niemand gesehen. Meine Tontöpfe und Schüsseln waren einzigartig und in meinen Augen wunderschön. Auch an der Drehscheibe stellte ich mich gut an. Es machte mir so viel Spaß, dass der nächste Kurs schon gebucht war.
Danach wollte ich malen. Ich gebe zu, genaues Zeichnen und Ausmalen war nie meins. Doch nachdem ich mir eine Leinwand in einem Kunstgeschäft gekauft habe, Pinsel, Acrylfarben mit im Gepäck, ging es los. Und an diesem Tage erblühte meine Liebe zur abstrakten Kunst. In mir war der Künstler aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. Die graue Maus nahm langsam Farben an. Die Kunst hatte bei mir schon immer einen hohen Stellenwert. ich liebe sie und das in all ihren möglichen Formen und Farben. So hatte ich ein neues Hobby, das Stück für Stück Teil meines neuen Ichs wurde.
Trotzdem waren da aber die vielen unausgesprochenen Worte in mir. Nur wohin damit? Ich musste sie aufschreiben, irgendwie los werden. Doch es waren nicht die Worte, die mich quälten, sondern die Gefühle dazu. Ich habe versucht meine Gefühle auszudrücken, aber wie? Gelernt habe ich das jedenfalls nicht. Und sollte ich als hochsensibles Wesen doch einmal geweint haben, hieß es sooft: Stell dich nicht so an!
Also fing ich an, in Reimform mir alles von der Seele zu schreiben. Und da war eine Menge. Wie gut, dass ich dieses Ventil gefunden habe.
„Ich habe die Angst als Teil des Lebens akzeptiert – insbesondere die Angst vor Veränderungen… Ich bin vorangegangen, trotz des Pochens im Herzen, das sagt: Kehr um…“
Erica Jong
Artemis erwacht
Mein Körper war mir nie unwichtig. Ich habe mich gepflegt, sowie ich das eben gelernt habe. Waschen, Zähne putzen, eincremen. Doch was es wirklich heißt, sich bewusst um seinen Körper zu kümmern, habe ich erst so nach und nach erfahren.
Angefangen hat alles, als mir ein Masseur sagte, er wird versuchen meinen Körper zusammen zu bringen. Äh…was? Ja er war der Meinung, dass kein Körperteil dort ist, wo es sein soll. Vor allem behauptete er, Kopf und Herz verstehen sich nicht. Ich fand Ihn unverschämt. Jedoch wusste ich tief in meinem inneren, dass es wahr ist.
Also fing ich an, meinen Körper bewusster wahrzunehmen. Vor jeder Mahlzeit stellte ich mir die Frage, was ich essen wollte. Ich stellte mir die Frage, wann ich essen wollte und folgte dieser neuen Intuition. Essen und trinken wurde für mich eine schöne, bewusste Aufnahme von etwas, das ich wirklich wollte. Und damit fühlte ich mich meistens gut. Das zwischendrin Essen, sinnloses Essen oder nur zu essen, was die anderen wollen, steht nicht mehr auf meinem Plan.
Mein Hautbild verbesserte sich und ich merkte, jedes Mal, wenn ich krank wurde, hatte mein Körper mir etwas zu sagen. Und ich hörte ihm zu. Machte öfter kleine Pausen und selbst in der größten Menschenmenge spürte ich mich endlich. Artemis war erwacht. Ich gönne mir Zeit, viel Zeit für mich. Ob für meinen Körper, um ihn zu pflegen, oder für meine Seele, um sie zu verstehen und zu heilen. Ich habe gelernt, dass diese Zeit für mich Priorität hat. Nun bin ich keine kleine, brave, süße, graue Maus mehr, sondern eine starke, selbstbewusste, wunderschöne Frau, die ihre Mitte immer mal wieder findet und dort gerne verweilt.

Der neue Beruf hilft beim sich neu erfinden
Meine Intuition ist meine beste Freundin geworden. Nachdem ich wusste, dass ich in meinem alten Job keine Zukunft hatte, ging ich auf die Suche nach etwas Neuem. Im Internet lief mir eine Stellenbeschreibung über den Weg, die mich sofort ansprach, ich bewarb mich und wurde sofort genommen. Ob dies meine Berufung ist, weiß ich nicht genau, aber ich werde es herausfinden. Und wenn nicht, dann sehe ich weiter. Jetzt aber kann ich sagen, dass es mir hier gut geht und ich froh bin diese Stelle gefunden zu haben, ohne wirklich lange zu suchen. Wieder ein Stück weiter auf dem Weg zu meinem wahren Ich.
Die Farben meines Seins
Meine Füße graben sich in den tiefen Sand
Ich blicke in die Ferne, verwundert, gebannt
Das eiskalte Wasser fließt an mir vorbei
Hier stehe ich nun und fühle mich frei.
Die frische Luft lässt mich wieder das Leben spüren
Der Wind will mich mit seiner Liebe berühren
Ich schließe die Augen und bewege mich sacht
Sehe Bilder neu, weit entfernt von finsterer Nacht
So stehe ich in den bunten Farben meines Seins
Ich tanze und lache, das Wunder, es ist meins
SonjYara
Immer weiter neu erfinden
Jetzt zwei Jahre später am 1.1.2023 stehe ich am Ufer des Sees. Ich bin ruhig, glücklich, dankbar und voller Demut. Ich kann die Menschen um mich herum wahr nehmen, spüre den Wind, höre die Enten, die auf dem See schnattern, schmecke die kalte Luft des Winters und rieche den Duft von nassem Moos. Ich stehe hier und bin dankbar, dass ich mich vor zwei Jahren dazu entschieden habe, zu atmen und mich neu zu erfinden. Ich habe Vertrauen in mich und weiß, dass ich meinen Weg gehe. Die Maus hat sich verwandelt und ist jetzt ein Kolibri, der den Weg der Schönheit und der Freiheit gewählt hat. <
Stella vom Meer