Statistisch gesehen macht so gut wie jeder mindestens einmal im Leben die Erfahrung durch, Nachwuchs in die Welt zu setzen, weshalb ein Artikel darüber nahezu überflüssig erscheint. Und doch ist dieser Bruch, dieser Neuanfang so intensiv wie kaum etwas anderes – quasi eine Art Antithese zum Verlust eines geliebten Menschen. Und jeder erlebt das anders, weshalb es einfach gut tut, auch mal ein paar sehr persönliche Erfahrungsberichte von verschiedenen Leuten zu erhalten. Dies ist meine Geburts-Geschichte, aus der Perspektive eines Vaters.
Das ist Ihr Sohn! – Mit einem Ruck zieht die Hebamme ein glitschiges Alien aus meiner Freundin, das mich genauso überrascht anschaut wie ich es. Ein traumatischer Augenblick für alle Beteiligten. Das blendende Gegenlicht taucht den Kreißsaal in seltsam unterkühlte Farben, irgendwas zwischen Türkis und Violett. So fühlt sich also eine „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ an. Die Augen, die mich anstarren, sind durchdringend. Obwohl ich weiß, dass er mich noch nicht richtig erkennen kann, nimmt er mich zum ersten Mal wahr … mein Sohn … Was sind das für brennende Tränen in meinen Augen? Ein seltsames Gefühl, dieses fremde Wesen zu betrachten, aus dem mal ein laufendes, sprechendes Kind werden soll. Müsste es nicht viel kleiner und schrumpeliger sein? Moment mal! Hat sie gerade MEIN Sohn gesagt?
Schlaflos in der Klinik
Die erste gemeinsame Nacht in einem Familienzimmer des Krankenhauses: Vom Baby-Beistellbett ertönen grunzende Laute. Gleichmäßig schnarcht der kleine Mann vor sich hin. Dann Stille und ein Geräusch, was ich bereits von meiner Mutter kannte, die durch die Wand hörbar unter Atemaussetzern litt. Hellwach schrecke ich auf und springe zum Bettchen, in der Angst, der Junge bekommt keine Luft.
Doch dann der entwarnende Pups, Schmatzen und wieder gleichmäßiges Grunzen. Sicherheitshalber beobachte ich das Szenario noch ein bisschen länger. Später klärt mich der Kinderarzt auf, dass das ganz normal sei. Sowohl die Nasenkrümmung als auch die Lungen müssen sich erst noch ausweiten und das Fruchtwasser aus den Atemwegen weichen.
In besagter Nacht bleibt die Lage weiterhin angespannt. Aller zwei bis drei Stunden und wenn das Baby schreit, wird gestillt, wobei weder meine Freundin noch ich genau wissen, was es dabei zu beachten gilt. Diverse Nachtschwestern schauen sich das an, geben Ratschläge und positionieren den Kleinen korrekt, damit er „die Bemme“ ordentlich zu fassen kriegt, anstatt nur zu nuckeln. Dabei muss er wach bleiben – das „Ärgern“ gelingt uns im Zehn-Sekunden-Takt. Alles scheint unter Kontrolle bis er wieder schreit. Gefüttert ist er. Vielleicht die Windel? Da ist alles trocken. Ok, also braucht er Nähe und will rumgeschleppt werden. Doch auch das bringt nicht die gewünschte Ruhe. Stattdessen wird es lauter. Was kann ihm fehlen? Ist er krank? Tut ihm was weh? Was stimmt nicht?

Komplette Selbstaufgabe?
Auch wenn der Fokus nun auf dem Kind liegt, trauen wir uns jetzt wieder zumindest einmal am Tag etwas für uns selbst zu machen. Das ist nur möglich, weil wir fremde Hilfe von den Großeltern angenommen und den Tagesablauf zumindest etwas strukturiert haben. Nach dem Mittag und dem obligatorischen Spaziergang schläft Junior ein Weilchen. Und abends, wenn wir uns zu zweit um den Kleinen kümmern können, lassen sich Hausarbeit und Kinderbetreuung besser aufteilen. Ein bis zwei Mal pro Woche geht es (nach dem Wochenbett/der Regeneration der Mutter) sogar wieder zum Sport – zwar zeitlich verschoben, aber immerhin.
Eine neue Welt mit Baby
Verzweiflung und Sorge nagen an unserem Nervenkleid. Die Situation scheint unlösbar. Wie sollen wir ihr je wieder lebend entkommen? Wir rufen erneut die Nachtschwester. Die Tür geht auf, Licht dringt vom Flur ins dunkle Zimmer. Die kleine, stämmige Gestalt am Eingang fragt: „Na, wo ist sie denn, die Flitzpiepe?“ Stille. Als die freundliche Hebamme näher kommt und das Baby auf den Wickeltisch legt, vorsichtig dessen Beine hoch biegt, erklärt sie beiläufig, dass Neugeborene häufig mit der Verdauung zu kämpfen haben. Es muss sich ja erst einmal alles auf die Flüssignahrung umstellen. Mit einem zögerlichen Pööööööp löst sich die Erleichterung von dem ansonsten komplett beruhigten Kind, das sich in absolut sicheren Händen weiß.
„Wir messen mal Fieber, um sicher zu gehen. Schau’n se mal … mit ein bisschen Stimulation entspannt sich so einiges.“ Demonstrativ popelt sie mit dem Thermometer herum, woraufhin sich ein Schwall Ex-Verdautes über das Mulltuch ergießt, begleitet von einem Pupspupspupspups-Stakkato. „37,3 – Temperatur ist ok“. Dann noch ein Wärmekissen aufs Bäuchlein gelegt, alles ganz easy. Die Tür schließt sich, der Profi hat den Raum verlassen. Wir Anfänger bleiben zurück und sehen uns rund fünf Minuten später dem nächsten unlösbaren Problem gegenüber. Vom Schlaf können wir uns erst einmal verabschieden. Doch wie lange wird das so weiter gehen? Etwa die ganze Nacht? Zwei Nächte? … Drei?
Ein Schnullernachtstraum
(frei nach Shakespeare)
Mit oder ohne Nuckel? Das ist hier die Frage:
Ob’s ruhiger im Gemüt, Angst vor Zahnschiefstellung und Entwöhnung
Des nervenden Geschreis erdulden oder,
Sich wappnend gegen Kolik und Darm-Plagen,
Durch Schnuller sie enden? Schlafen!
Nichts weiter! Und zu wissen, dass ein Nutsch
Endet das kindliche wie elterliche Leid,
In hohem Bogen hinausgefloppt
Oder aufs innigste zu saugen. Schlafen!
Vielleicht auch träumen! Mit oder ohne Daumen!
Das (Baby-)Monster im Bett
Immer wenn meine Freundin stillend mit dem Rücken zu mir liegt, nehme ich die unheimlichen Geräusche aus der Finsternis hinter ihr umso stärker wahr. Auf gar keinen Fall sind diese menschlicher Natur. So etwas habe ich vorher vielleicht in „Gremlin“-Filmen gehört oder im Zoo. Das ist ein Knurren, Schmatzen, Grunzen, ein Hecheln, Gluckern, Fiepen.
Geht mein Blick zögerlich über die Schulter, sehe ich wiederum nur ein kleines, harmloses Baby, ganz unschuldig dreinblickend. Morgens, wenn der Kleine selig schläft, ist das ein Bild für die Götter. So liebenswürdig und niedlich. Und wenn er dann aufwacht, streckt er sich ganz doll, gähnt genüsslich und schmatzt zufrieden.
Aber dann: WÄÄÄÄÄÄÄÄÄH! Sein Gesicht zur Grimasse der Ungerechtigkeit verzerrt, läutet es das ewig gleiche Spiel ein: Hat er Hunger, sind die Windeln voll, braucht er Nähe, tut was weh? Vermutlich alles gleichzeitig, denn weder das Anlegen noch das Windeln können ihn beruhigen. „Ausgeglichene Eltern führen zu ausgeglichenen Kindern“, meinte die Osteopathin. Ganz klar eine wahre Aussage, also sag ich mir: Sei ausgeglichen, wenn du ihn noch mal auf die Wickelkommode hievst.
Der Lautstärkepegel steigt. Ausgeglichen! Jetzt vorsichtig die Baby-Beine anheben, um den Pupsen freie Bahn zu geben. Und es funktioniert, nach ein paar Wiederholungen. Wir haben der Osteopathin eindeutig zu wenig bezahlt. Fliegergriff, verdauungsfördernde Übungen, langsame Bewegungsweise, die richtige Körperhaltung des Kleinen, Bauchlage zur Förderung der Nackenmuskulatur – das alles und noch viel mehr hilft wirklich. Schreiphasen gibt es allerdings immer noch. Und zwar ziemlich heftige. Auch nach acht Wochen sind wir manchmal ratlos, immerhin etwas weniger als zuvor.
Probieren und Scheitern ist aber immer noch die einzige Möglichkeit, seinen eigenen, ganz individuellen Weg der „Lärmbekämpfung“ oder Erziehung zu finden. Wir sind also unverändert am stetigen Experimentieren: Rituale einführen, sie verwerfen, verzweifelt sein, mit dem Kind rumblödeln, durch Zufall Neues entdecken, dieses dann ritualisieren und dann alles wieder von vorne …

Vorübergehende Demenz
Ich sag’s einfach frei heraus: Seit der Geburt sind meine Partnerin und ich ein wenig „verblödet“. Stress und Schlaflosigkeit fördern dieses weit verbreitete postnatale Phänomen noch zusätzlich. Da kommen dann ganz merkwürdige Gespräche zustande, weil sich niemand richtig erinnert und die Nerven manchmal blank liegen – ein fruchtbarer Nährboden für Streit. Weil noch nie ein Problem durch gegenseitige Schuldzuweisungen gelöst wurde, scheint die Akzeptanz der schwierigen Situation und der schrittweise Versuch der Behebung die beste Methode zu sein, um unnötigen Stress zu vermeiden. Das ist alles andere als einfach. Aber jetzt, wo einen noch zwei weitere Augen beobachten, ist es eine gute Kompromisslösung.
Finger weg vom Baby!
Als der Kleine gerade mal zwei Wochen alt war, stand bereits die erste Familienfeier an, ein 80. Geburtstag. Wir hatten uns dafür entschieden, diesen zu besuchen, auch wenn uns klar war, dass das mit einigen Risiken fürs Baby verbunden war, die sich bereits in dem Moment bewahrheiteten, als wir das geparkte Auto Richtung Gaststätte verließen und ich die Babyschale kurz auf den Boden stellte. Zielgerichtet kam die einjährige Cousine auf den Kleinen zugewankt, um dem Schlafenden ins Gesicht zu greifen, was wir mit Leichtigkeit verhindern konnten. Ein niedliches Intermezzo, aber auch eine Vorahnung, was da noch kommen würde.
Kaum hatten sich die Augen an die Dunkelheit des „Vestibüls“ der Kneipe gewöhnt, kamen auch schon die restlichen Kinder angerannt, um den Neuankömmling zu untersuchen. Kleine und größere Hände streckten sich gleichzeitig aus … „Halt! Finger weg! Niemand fasst den Kleinen an!!!!“ Überrascht schaute ich mich um, aus welchem Mund diese etwas lauten Worte stammten, bis ich erstaunt feststellte, dass es meine eigenen waren. Der älteste Teenager der Truppe blickte mich enttäuscht an, weil er nicht mit dem Baby spielen durfte und fragte mich: „Warum?“
Auch die Erwachsenen schauten gespannt, welche Baby-Abstands-Regeln nun wohl für den Rest des Abends galten. „Das Baby ist gerade mal zwei Wochen alt, für ihn ist alles neu. Das ist kein Spielzeug und auch noch kein Spielkamerad. Daher bitte nur gucken, nicht anfassen.“ Es folgte verständnisvolles Kopfnicken. So ziemlich alle wollten den niedlichen „Pupsi“ am liebsten auf den Arm nehmen und mit ihm knuddeln, weshalb es umso anständiger war, dass es niemand tat. Noch Tage später hatte ein schlechtes Gewissen wegen meines barschen Tons – diese Seite kannte ich bislang gar nicht von mir. Aber es war der pure Beschützerinstinkt.
Inzwischen ist das alles viel lockerer und wir können froh sein, wenn mal die Großeltern mit ihm spazieren gehen und wir eine Stunde Zeit für uns haben – was romantischer klingt, als es ist. Natürlich ist damit die Zeit gemeint, in der man in Ruhe auf Toilette, duschen oder was essen kann. Ein kurzer Powernap kann auch nie schaden. Oder ein paar Rückenübungen … Junior ist sehr schnell echt schwer geworden.

Beobachtungen
Es gibt nichts schöneres, als ein Baby zu beobachten. Da geht eine ganze Menge ab im kleinen Köpfchen. Ob emotionaler Zufallsgenerator bei der Mimik, unkontrollierte Bewegungen oder echte Reaktionen aufs Umfeld – auch nach Stunden lassen sich immer wieder neue Aspekte erkennen. Und natürlich bezaubert das Lächeln über alle Maßen. Sogar im Schlaf wird gegiggelt. Das Weinen wiederum ergreift und weckt den Knuddel-Drang. Wer sich in dieses kleine Wesen hineinversetzt, entdeckt die Welt ganz neu mit klarem, unverfälschtem Blick. Eine Welt voller Liebenswürdigkeit und Vorfreude, auf alles, was sich darin erleben und machen lässt.
Ein neuer Mittelpunkt
Wie hat sich unser Leben seit dem entscheidenden Satz „Das ist Ihr Sohn!“ verändert? Nun sagen wir es mal so: Aus dem Ich und dem Uns ist ein Es geworden. Die Welt dreht sich momentan nur ums Baby. Konnte man sich vorher noch über die neueste TV-Serie oder Musik unterhalten, geht es jetzt zum Beispiel um Tragegurte, die Babyschale fürs Auto, die richtige Ernährung, Haltepositionen … Oh, wie er lächelt, so süß! … Koliken, Zu-Bett-Geh-Rituale … das war eben sein erstes Doppel-Bäuerchen, wo ist die Kamera? … die Farbe des Kots und den Entwicklungsstand des Kindes.
Man muss einfach akzeptieren, dass es sich um eine partielle Selbstaufgabe handelt. Und niemand kann einen darauf vorbereiten. Das ist einfach ein neuer Lebensabschnitt, mit komplett neuen Regeln. Ich gehe zum Beispiel weniger zum Allgemein-Mediziner, dafür häufiger zum Kinderarzt. Statt Geschenke für die eigene Person gibt’s jetzt ausschließlich Geschenke fürs Kind. Bevor ich mich zum Rausgehen fertig mache, muss das Kind angezogen sein, im Winter möglichst mit einer Schicht mehr als ich. Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, wird mir das Baby in die Hände gedrückt, damit meine Partnerin zumindest einmal am Tag etwas für sich tun kann. Es muss mehr tägliche Hausarbeit bewältigt werden, mehr Wäsche, mehr Geschirr, mehr Einkauf, mehr Müll. Der Geräteverschleiß ist höher, weshalb mehr Reparaturen anfallen.
Deshalb lautet unsere erste Antwort auf die Frage nach der Lebens-Veränderung: „Keine Zeit! Kind schreit!“ Dann irgendwann: „Man gewöhnt sich daran und traut sich wieder ohne Gewissensbisse, gelegentlich duschen zu gehen.“ Aber schließlich, wenn sich alles irgendwie eingependelt hat, wenn wir die Schritte in dieser neuen Welt mit größerer Sicherheit und Ruhe gehen können, kann es nur eine Antwort geben: „Ganz einfach: Unser Sohn ist die größte Liebe unseres Lebens!“.
Falko Theuner
Falko Theuner
ist Chefredakteur des BLU-RAY MAGAZINs, das seit 2008 im Auerbach Verlag erscheint und das volle Spektrum an cineastischer Unterhaltung abdeckt. Generell faszinieren ihn alle Filme, die berühren, bzw. das Film-Medium an sich als ideale „Traum-Konserve“.