Eifrige Wanderer starten ihre Tour meist früh am Morgen, um viel vom Tag zu haben. 
Doch auf den Wegen sind dann auch viele Gleichgesinnte unterwegs. Wer lieber ein individuelles 
Erlebnis will, der Natur ganz nah, geht deutlich später los.

An schönen Tagen bevölkern hunderte Menschen die schmalen Wanderwege auf die Berge hinauf. Richtige Entspannung kommt da in mir aber nicht auf. Weil es ständig gilt, schnellere Wanderer vorbei ziehen zu lassen oder weil man hinter noch langsameren hertrotten muss. Macht mir das Spaß? Nicht wirklich. Deshalb habe ich längst damit aufgehört, auf die Berge zu gehen, wenn das die Anderen auch gerade tun. Ich starte meine Wanderungen erst am Nachmittag. Also dann, wenn die meisten längst wieder auf dem Weg ins Tal sind.

Bergauf

Meine Bergwanderung beginnt erst, wenn mehr als die Hälfte des Tages schon verstrichen ist. Zunächst geht es auf dem Weg noch ziemlich hektisch zu, da alle, die frühmorgens auf den Berg rauf sind, jetzt wieder gleichzeitig runter wollen. Doch bald merke ich, wie es immer weniger werden und Ruhe einkehrt. Auch hinter mir ist keiner. So kann ich, ohne auf andere vor oder hinter mir achten zu müssen, so gehen, wie es mir am angenehmsten ist. Vollkommen stressfrei und am Puls der Natur. Eine milde Frühsommerbrise sorgt für Erfrischung. Immer wieder bleibe ich kurz stehen und schaue zurück ins Tal. Zuerst freue ich mich über den bereits zurückgelegten Weg. Viel faszinierender ist aber das Panorama, das sich mir allmählich eröffnet. Besonders jetzt am späteren Nachmittag, wo die Luft reiner und klarer wird. Kein Dunst der Mittagssonne trübt die Fernsicht. Erst jetzt beginne ich wahrzunehmen, dass ich längst vollkommen alleine unterwegs bin. Nur ich und der Berg. Ein überwältigendes Gefühl.

Auf dem Gipfel

Die Sonne steht inzwischen tief im Westen und hüllt die Bergwelt in sanfte, gelb schimmernde Farben, das weithin auch als Alpenglühen bekannt ist. Die wuchtigen Felsmassive der umliegenden Gipfel heben sich imposant vom tiefen Blau des Himmels hervor und zeigen all ihre Pracht, bis ins kleinste Detail. In diesem stillen Moment nehme ich mir die Zeit, diese Kulisse auf mich wirken zu lassen. Ich spüre, wie die Weite und Freiheit voll und ganz von mir Besitz ergreift. Den Alltag mit all seinen meist nebensächlichen Problemen und Nöten habe ich weit hinter mir gelassen. Sie erscheinen mir, als wären sie Relikte einer fernen, fremden Welt. Jener Welt tief unten im Tal. Jetzt aber ist mein Kopf frei. Ich spüre förmlich, wie mich all die Kraft und Magie dieses besonderen Ortes durchdringt, mich vollends einnimmt. Ich lasse es zu, weil ich spüre, wie ungemein gut mir das tut. Frei wie ein Adler den Moment des Augenblicks tief in mich hineinsaugend, bin ich überwältigt vom stillen Naturschauspiel rund um mich herum.

Die Sonne sinkt tiefer und färbt die von ihr angeschienenen Gipfel langsam in leichtes Orange, das allmählich in immer tiefer werdendes Rot übergeht. Etwas unter dem Gipfelkreuz gluckst ein alter Brunnen mit einem aus einem Baumstamm geschlagenen Trog. Frisches Quellwasser. Ich nehme einen Schluck. Dann noch einen und noch einen. Dieses Quellwasser schmeckt so richtig nach Kraft, Power und Dynamik und mobilisiert all meine Lebensgeister. Es ist so ganz anders als das, was im Tal an vielen Orten aus der Leitung kommt. Unverfälschte Natur eben.

Abenddämmerung

Die Berge werfen inzwischen lange Schatten und unten im Tal wird es allmählich dunkel. Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier oben mitten in vollkommener Stille und umringt von einer sanften Brise verweile. Es ist so ganz anders, als eine übliche Bergtour. In diesen Stunden stört kein anderer Mensch meinen inneren Frieden. Kein lärmen, kein rufen, keine klingelnden Handys. Keine Einkehr in eine Almhütte mit Massenabspeisung und Beschallung mit der volkstümlichen Hitparade. Diese Scheinwelt wird uns in Hochglanzprospekten nur allzu oft als die wahre Bergwelt verkauft. Die Realität sieht aber ganz anders aus. Sie ist stiller, kommt ohne Alpinfolklore aus und hat sich in jene Tageszeiten zurückgezogen, in denen keine Sessellifte laufen, die die Menschen zum fernen Gipfel tragen. Im Westen ist die Sonne gerade dabei, hinter den Bergen zu verschwinden. Letzte wärmende Sonnenstrahlen und ein letztes Blinzeln in den inzwischen rot gefärbten Feuerball. Dann nur noch Dämmerlicht, das sich langsam aber sicher immer weiter nach Westen zurückzieht und der vom Osten herannahenden Dunkelheit Platz macht. Die Geräusche der Natur rund um mich werden weniger. Das gelegentliche Läuten der Kuhglocken von der etwas weiter unten gelegenen Alm wird seltener und verstummt nach und nach. Da und dort zieht noch ein großer Vogel seine Bahn im blutrot getränkten Himmel. Es ist, als lege sich die Natur zur Ruhe. Absolute Stille – absolute Ruhe. Auch ich versuche leise zu sein und beobachte mal von da, mal von dort, wie die Nacht einzieht und sich wie ein Schleier über das Land legt. Hoch oben entdecke ich ein Flugzeug. Es funkelt in den letzten Sonnenstrahlen.

Nacht

Längst ist das Abendrot verklungen und das Dunkel der Nacht hat sich über das Tal gelegt. In der unter mir liegenden kleinen Stadt und den umliegenden Dörfern gehen allmählich die Lichter an und es lassen sich schon die Scheinwerferkegel der fahrenden Autos ausmachen. Hier oben herrscht noch Dämmerung, die umliegenden Berge sind auch jetzt noch gut zu erkennen. Im Osten geht gerade der Mond auf. Langsam schiebt sich seine gelb leuchtende Scheibe dem Himmel entgegen und sorgt für schwaches Licht. Allmählich sollte ich an den Abstieg denken. Aber ich will diesen friedlichen und überwältigenden Ort noch nicht verlassen. Ich setze mich auf den noch warmen Boden und lehne mich am Gipfelkreuz an. An mein Ohr dringt nur das leise glucksen des nahen Brunnens. Sonst herrscht absolute Stille. Sie vermittelt Ruhe und Ausgeglichenheit. Ich fühle mich so wohl, wie schon lange nicht mehr. Warum kann man so ein Gefühl des Befreitseins von allen Sorgen nicht immer in sich tragen? Liegt das an unserer inneren Einstellung?
Ich lasse meinen Blick in die Ferne schweifen. Es ist schon erstaunlich, wie viel man bei so wenig Licht noch erkennen kann. Auf einem der Berge um mich entdecke ich ein kleines, flackerndes Licht. Wohl ein kleines Feuer, das sich Bergsteiger gemacht haben, die die Nacht dort oben verbringen wollen.

Abstieg

Für mich wird es aber Zeit, aufzubrechen. Ich gönne mir noch einen Schluck des hochalpinen Quellwassers und mache meine Stirnlampe an. Die Nacht ist zwar unerwartet hell, aber kleine Stolpersteine, Wurzelwerk und andere Unebenheiten lassen sich mit Licht doch leichter erkennen. Während über mir immer mehr Sterne aufblinken, gehe ich gemächlich bergab. Schließlich will ich auch diesen letzten Teil meiner Bergwanderung genießen. Mir geht es nicht um den sportlichen Aspekt, sondern darum, der Natur, unserer Mutter Erde, so nah als nur irgend möglich zu sein. So halte ich auch ab und an inne und lausche leisen Geräuschen, die von nachtaktiven Tieren stammen.

Im Tal angekommen lasse ich meine Bergtour noch einmal Revue passieren. Ganz alleine da oben unterwegs zu sein, ist schon etwas höchst Individuelles. Es ist ein Erlebnis, von dem ich nicht nur lange zehren werde, sondern auch etwas, das ich mir ganz alleine zu verdanken habe. So weit, fernab des Massentourismus ist Bergsteigen eben doch etwas viel schöneres. 

Dieser Artikel stammt aus dem AUSZEIT-Magazin

 

 

Bildquellen: © Raphael Hilliger