Der Wald hat immer Saison, egal ob im Frühling, Sommer, Herbst oder Winter. 
Stets ist er ein Ort der Ruhe und Entspannung. Doch der Wald ist viel mehr. Er ist Lebensraum für zahllose Tiere und unterstützt selbst unser Dasein auf vielfältige Weise.

Freilich könnten wir mit unseren Mountainbikes schnell durch einen Wald brausen und den Nervenkitzel verspüren, wenn es auf anspruchsvollen Wegen über Stock und Stein geht. Action pur eben. Aber ist es das, was einen Wald ausmacht? Der Wald ist ein Ort der Stille und Ruhe, in dem Zeit eine vollkommen neue Bedeutung gewinnt. In ihm geht es nicht um Stunden oder Minuten, sondern um Jahre und Menschenleben. Wenn wir in den Wald eintauchen, sollten wir uns dessen bewusst sein. Mehr noch. Wenn wir ihn betreten, tauchen wir in eine andere Welt ein, derer wir uns erst bewusst werden müssen. In ihm ist alles anders, als in der Welt draußen. Hohe Bäume mit dichten Kronen lassen nur wenig Sonnenlicht bis zum Boden durchdringen. Womit es in ihm, besonders im Sommer, angenehm kühl und schattig ist. Es braucht nur wenige Meter, um voll darin einzutauchen. Halten wir etwas Inne und befreien uns von der Hektik, die im täglichen Leben unser ständiger Begleiter ist. Dazu schalten wir am besten unser Smartphone aus. Das gibt uns Gelegenheit, nicht ständig darauf achten zu müssen, ob es einen Laut von sich gibt. Allmählich beginnen wir wahrzunehmen, dass es im Wald gar nicht so still ist. Von den Wipfeln nehmen wir fröhliches Vogelgezwitscher wahr und ab und an ein leises Knacken im Geäst. Es stammt von scheuen Tieren, die durch den Wald streifen.

Natur erleben

Meist verstecken sie sich vor uns. Nur wenn sie sich unbeobachtet und sicher fühlen, gehen sie aus ihrer Deckung und können unsere Wege kreuzen. Dieses Glück wird uns aber nur beschert, wenn wir uns langsam und vor allem leise durch den Wald bewegen und dabei stets unsere Augen offen halten. Vielleicht erspähen wir einen Auerhahn, der uns von seinem Nest weglocken möchte, oder auf einer Lichtung grasende Rehe. Vielleicht huschen auch Eichhörnchen an uns vorbei. Die haben es jetzt im Herbst besonders eilig. Gilt es doch, für den Winter reichlich Vorräte anzulegen. Wobei sie etwa Nüsse im Waldboden vergraben. Daneben können wir Ameisen beobachten und deren mitunter recht imposanten Hügelnester bestaunen. Doch auch die Pflanzenwelt hat einiges zu bieten. Neben faszinierenden Farnen können wir am Boden Pilze entdecken. Wir wollen uns gar keine Gedanken darüber machen, ob sie giftig sind oder nicht. Schön anzuschauen sind sie allemal, und das sollte uns reichen.

Urwälder sind in Europa kaum noch anzutreffen. Damit sind all unsere Wälder von Menschenhand angelegt und so genannte Nutzwälder. Sie sind, ganz unpoetisch ausgedrückt, nichts anderes als Felder. Sind die Bäume groß genug, werden sie geschlagen. Man spricht auch von Holz ernten.

Leben und sterben lassen

Bis zum „Ernten“ der Bäume vergehen rund 100 bis 120 Jahre. Für menschliche Begriffe ist das eine Ewigkeit. Pflanzen wir doch Bäume mit der Gewissheit, dass sie erst unsere Urenkel in voller Pracht erleben werden. Der Wald steht damit weit über dem menschlichen Zeitempfinden. Seine majestätischen Bäume haben sich in vielen Jahrzehnten zu dem entwickelt, wie wir sie heute erleben. Im Durchschnitt sind unsere Wälder an die 100 Jahre alt. In schwer zugänglichen Regionen können sie noch deutlich älter werden. Einige Bäume haben es sogar auf ein stattliches Alter von 500, 800 oder sogar über 1 000 Jahre gebracht. Was anderes können wir da empfinden, als tiefe Ehrfurcht? Was mag etwa eine 800 Jahre alte Eiche alles erlebt haben? Ihre Jugend lag im Dunkel des Mittelalters, zu einer Zeit, in der Ritter durch die Lande zogen. Als Gutenberg den Buchdruck einführte, Columbus Amerika entdeckte, Luther seine 95 Thesen in Umlauf brachte, die französische Revolution in Paris tobte, sich das erste Flugzeug in die Lüfte erhob, zwei Weltkriege Europa in Schutt und Asche legten, die alte Eiche war immer da. Sie hat den Wandel der Zeit überdauert. Auch wenn wir manche sehr alte Bäume zu Naturdenkmälern erhoben haben, so dürfen wir nicht vergessen, dass Bäume auch nur Lebewesen wie Du und ich sind. Mit den Jahrhunderten werden sie alt und schwach und es kommt auch für sie der Tag, an dem sie von dieser Welt Abschied nehmen müssen. Daran vermögen auch Bürgerinitiativen nichts zu ändern. Mit dem Sterben eines alten Baumes haben wir die Möglichkeit, an seiner Stelle einen neuen zu pflanzen und ihn mit unseren besten Wünschen für eine ferne Zukunft, in der es uns längst nicht mehr geben wird, zu bedenken.

Individuell

So groß und mächtig die Bäume unserer Wälder auch wirken, leicht hatten sie es nie. Besonders junge Setzlinge müssen gegen die Unbill der Natur ankämpfen und etwa Wildfraß überstehen. Ein ein Jahr altes, aus einem Samen gesprossenes Bäumchen misst gerade einmal wenige Zentimeter. Selbst nach zwei Jahren ist es kaum größer, als ein unscheinbares Zweiglein. Erst nach rund 15 Jahren hat ein Baum das Schlimmste überstanden. Er hat nun etwa die Größe eines Christbaums. Bis er „erwachsen“ ist, sollen aber noch weitere 25 bis 45 Jahre vergehen. Von 100 gepflanzten Bäumen überleben nur 25 bis 35 diese Zeit. Deshalb erinnern Wälder auch nicht an Plantagen, sondern entwickeln ihren individuellen Charakter. Er ist geprägt von der Landschaft und der Witterung. So sind Bäume in schneereichen Bergregionen durchweg schmal und schlank. So geben sie dem Schnee kaum Auflagefläche.

Überlebenswichtig

Wälder verdienen unsere tiefe Ehrfurcht und Dankbarkeit. Sie spenden uns nicht nur frische Luft, sondern erfüllen in den Bergen auch eine wichtige Schutzfunktion. Sie halten Lawinen und Steinschläge von den Dörfern im Tal fern und bilden so die Grundlage, dass diese Lebensräume von uns überhaupt erst erschlossen werden konnten. Dort, wo solche Schutzwälder absterben, wird es für uns Menschen lebensbedrohlich gefährlich. Deshalb ist es unsere Aufgabe, dem Wald zu helfen, soweit es in unserer Macht steht. Dazu braucht es nicht zwingend Hochtechnologie. Besonders die alten Bauern wissen, was ihren Wäldern gut tut. Dieses Wissen gilt es zu bewahren.

Die Weisheit: „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“, geht zurück auf die alten Römer. Das beweist sich selbst heute noch in jedem Samenkorn. Es trägt die Erfahrungen und den Kampf ums Überleben vieler Jahrhunderte in sich, die seine Vorfahren gesammelt haben. Damit trägt er alle Voraussetzungen in sich, um eben an diesem Ort am besten gedeihen zu können. Darin liegt übrigens auch das Geheimnis, weshalb Bäume fern ihrer Heimat kaum gedeihen. Erinnert uns das nicht auch an uns selbst?

Gerade im Herbst zeigt sich der Wald von seiner schönsten Seite. In den noch angenehm warmen Sonnenstrahlen glitzern seine Blätter in goldgelb, rot und braun. Der Wald ist voller Leben. Es lässt ihn uns von jedem Mal aufs Neue in bislang nicht beachteten Facetten entdecken. Jeder Baum hat eine Seele, jeder Baum zeigt sich uns in einer anderen Pracht. Manche ragen stolz und gerade in den Himmel. Andere wurden von Wind und Sturm geformt oder vom Blitz getroffen. Und wenn wir genau hinschauen, sehen wir, wie sich die Bäume nach dem manchmal knappen Licht strecken, ganz langsam. Dann gibt es die sonderbarsten Wurzelformen zu entdecken, jede ein eigenes Kunstwerk. Moosüberzogene Wurzelstöcke erinnern uns an längst Vergangenes. Im Wald hat Zeit keine Bedeutung. In ihm verschmelzen das Gestern, Heute und Morgen. Groß und mächtig hält er uns vor Augen, wie klein und unwichtig wir doch sind. Wenn wir es zulassen, können wir in unseren Wäldern die Ewigkeit entdecken. Durch sie können schon unsere Urgroßeltern gewandert sein, genauso, wie wir es heute tun und wie es unsere Ururenkel auch einmal tun werden. Der Wald wird bleiben, während wir, die Menschen, kommen und gehen.

Dieser Artikel stammt aus dem AUSZEIT-Magazin.

Bildquellen: © Raphael Hilliger