Er kann verwüsten und entwurzeln. In rauschhafter Manier wütet er über Landschaften hinweg. Seine destruktiv-magische Ambivalenz ängstigt und inspiriert. Aber was passiert, wenn ein Sturm über uns hinwegfegt und alles umschmeißt?

Eine seltsame Spannung liegt in der Luft. Ein Knistern. Ist es das Laub unter meinen Füßen, das Rauschen der Wälder oder meine Gedanken, die vom Wind zerstreut werden? Ich atme Herbst ein und beschließe, mich der eigentümlich aufkommenden Stimmung hinzugeben. Irgendetwas ist anders, ich kann nicht einschätzen, was es ist. Aber es fühlt sich unheilvoll und prickelnd an. Plötzlich: Stille. Um mich herum ein Innehalten.

Die Vögel verstummen. Ich bleibe stehen und schaue in den Himmel, der aussieht, als verliefe graue Aquarellfarbe auf Pergament. Als ob alles aufeinander abgestimmt wäre, legen sich die Bäume in schweres, pathetisches Rauschen. Zuvor noch gemächlich wiegend, pfeift und knackt es nun im Blattwerk, als würden sie sich lästiger Kastanien und überflüssiger Zweige befreien. Ich werde hin- und hergewogen, verliere meinen Halt. Das Aquarell bricht auf.

Aus schwarzgrauen Tiefen peitschen wütende, unerbittliche Regengüsse. In meiner Nähe ist ein kleiner Pavillon. Ich steuere ihn an, kauere mich auf seine Bank, presse meinen Rücken an die Wand. In einer bizarren Mischung aus Angst, Demut und rauschhafter Untergangsstimmung erahne ich, wie der Sturm sich zugleich schwerfällig und ekstatisch zuckend durch die Landschaft rollt.

Augenblicke später lässt der Druck nach. Wie nach einem Tobsuchtsanfall zieht sich der Regen verschämt zurück, nimmt die Dunkelheit mit und gibt meine Sicht frei. Als wäre nichts geschehen, ist es hell und herbstleuchtend. Die Luft ist seltsam rein, es duftet intensiv und organisch nach Laub, Nässe und Ursprünglichem.

Obwohl auch die Vögel wieder zwitschern, hat sich eine Metamorphose vollzogen. Die Bäume haben den Sommer abgestreift und stehen nun in voller Blöße da. Manche sind geschunden, haben abgebrochene Äste und sehen müde aus. Ich sitze halb geschützt, halb ausgeliefert in meinem Pavillon. Ich musste keine Blätter lassen. Und fühle mich dennoch wie nach einem tollkühnen Grenzgang zwischen Demut, Zauber und Wahnsinn.

Die Macht des Meeres

Keinen schutzspendenden Baukörper, nicht mal festen Grund unter den Füßen, gibt es indes auf dem Meer. Unzählige Seelen und zerstörte Schiffsrümpfe ruhen in dunklen Tiefen der See. Hier, wo der Mensch und sein Streben nach Zivilisation nur geringfügig Zugang haben, schöpft die Natur aus ihren Vollen und entfesselt ihre gesamte ursprüngliche Kraft, Schönheit und Gewalt. Winde können aufgrund der fehlenden Bodenreibung auf dem Wasser höchste Sturmstärken entwickeln. Der Mensch ist ein winziges Däumelinchen in einer Nussschale inmitten tosender dunkler Fluten, schäumender Wellen. Kein Haus, kein Baum gewährt Schutz.

Denn die See, in gewaltvoller Allianz mit dem Sturm,treibt ihren Schabernack mit der Nussschale, wann und wie sie will.Sie kann sie hin- und herwiegen oder aber in monströsen Wellen verschwinden lassen. Die Furcht vor Meeresstürmen sorgte seit jeher für Mythen. Jede Religion und Mythologie beschreibt eine Gottheit, die Stürme entfesseln kann. Odin, Göttervater, Kriegs- und Totengott der nordischen Mythologie, galt ursprünglich als Sturmgott. Im dunklen Himmelsmantel und Wolkenhut ritt er auf seinem achtbeinigen Ross voran und trieb sein Heer durch die Lüfte. Seemänner stechen mit gemischten Gefühlen in ihr geliebtes Meer; die Gefahr eines Sturmes ist immer da. Pfeifen an Bord, so lautet eins der ungeschriebenen Seemannsgesetze, ist streng verboten!

Es lockt die Stürme an, um die sich so viele Mythen ranken. So erzählt man von Seeungeheuern und Nymphen, die für Unheil sorgen. Menschen konnten sich lange Zeit nicht vorstellen, dass eine namenlose Gewalt für ihr Ausgeliefertsein sorgen kann und so wurde versucht, dem unfassbaren Phänomen ein Antlitz zu geben. Viele Jahrhunderte erzählte man sich bei Kerzenlicht die Geschichte einer Monsterwelle, die in der Lage ist, alles zu vernichten, was ihr unterkommt. Wohliger Grusel begleitete die Zuhörer damals. Heute erzählt man sich Geschichten von Wellen, die ganze Landstriche verwüstet haben. Es ist kein Seemannsgarn, es ist Urgewalt.

Die Welt steht Kopf

Stürme. Mal treiben sie mit sanfter Gewalt jahreszeitliche Transformationen voran, lassen Blüten und Blätter tanzen. Dann gibt es Stürme, die Unheil und Verwüstung hinter- lassen. Ihre vielfarbige Symbolkraft lässt sie zu Metaphern für Leidenschaften werden, die schwer in Worte zu fassen sind. Wenn wir von „Stürmen“ oder „stürmisch“ sprechen, geht es weit weniger häufig um meteorologische Inhalte denn um emotionale. Unsere Zuschreibungen gehen dabei von destruktiven Gefühlen hin zu Lebhaftigkeit, Jugend und himmelhochjauchzender Überwältigung.
Oft gipfeln sie in einer romantischen Idealisierung von Leidenschaften. Als Gegenpol zur Regelhaftigkeit des Alltags, zur Contenance des gesellschaftlichen Miteinanders.

Denn Stürme sind radikal, voll negativer wie positiver Energie. Das Ungezügelte in ihnen ist dem Menschen von Natur aus innewohnend. Das Unkontrollierte ängstigt eine Welt, in der wir stetig versuchen, unser inneres Gleichgewicht zu finden. Stoische Gelassenheit schafft die friedvolle Armlänge Abstand zwischen uns und dem Chaos, so zumindest das Ideal. Was aber, wenn es sich in und um uns zusammenbraut, alles durcheinander geworfen wird und wir die Kontrolle verlieren? Dann sollten wir uns hingeben, denn jeder Sturm geht vorbei, abgebrochene Äste wachsen nach und wenn er vorüber ist, sieht man die Dinge manchmal klarer als zuvor.

Katharsis

Unser Alltags-Ich hat wenig Platz und emotionale Spielräume für das – nennen wir es – „Sturm-Ich“: Tiefen, Erschütterungen, Leidenschaften und emotionale Extreme. In der Natur entwickeln sich Stürme aus dem Aufeinandertreffen hoher Druckunterschiede. Druck. Das hört sich irgendwie seltsam vertraut an, oder? Funktionieren, das möchten wir alle. Das setzt höchste Selbstkontrolle voraus. Und so unterdrücken wir, was das Zeug hält.

Doch ist ein Sturm angestauter Emotionen nichts, wofür man sich schämen muss. Er sollte sogar ab und an unsere seelische Landschaft aufwirbeln. Vor allem der kathartischen, emotional reinigenden Wirkung wegen. Als Form des Loslassens von schmerzhaften, als Druck erlebten Gefühlen. Aggression wird meist als etwas Negatives angesehen und im gesellschaftlichen Miteinander, wenn überhaupt, nur in Form karrieretechnischer Machtdemonstration akzeptiert. Aggressio wird mit ‚Herangehen, sich nähern‘ übersetzt.

Ein Herangehen als das Gegenstück zur Niederdrückung und Verdrängung, sich den eigenen Emotionen nähern, sie annehmen und auch negativen Gefühlen Luft zu machen, ist überaus wichtig, um sich selbst kennen und schätzen zu lernen. Es scheint paradox, aber ein impulsiver Sturm kann den Weg ebnen, mit sich ins Reine kommen und ein inneres Gleichgewicht finden zu können.

Neue Impulse

Wir richten uns in Routinen ein, um unser Leben zu strukturieren und übersichtlicher werden zu lassen. Dieses Netz an Regelmäßigkeiten verdichtet sich zum Glück (und Unglück) häufig zu behaglichen Komfortzonen, die Sicherheit ausstrahlen, uns aber in ihrer Eigenschaft als Wohlfühlzone nicht zu Veränderung und Vorankommen zwingen. Sie können zu Stagnation führen, denn neue Herausforderungen wirken immer erst einmal beängstigend. Stürme, unerwartete und unerwünschte Veränderungen, rauschhafte Gefühlsschwankungen und Rückschläge bringen Chaos und Zerstreuung.

Trotz ihres erst einmal negativen Charakters können sie zur Chance werden, uns neu zu ordnen und aus gewohnten Bahnen geworfen zu werden. Denn vieles muss neu ausgelotet werden, man kann oder muss vielmehr andere Perspektiven einnehmen, weil es einen aus gewohnten Denkschemata herausgeschüttelt hat. Denn genau dann, in Ausnahmesituationen, können sich unsere größten Energien entfesseln. Und wir können sie positiv und kreativ nutzbar machen, um Dinge zu ändern, die uns schon lange stören, die wir nur aus Bequemlichkeit haben laufen lassen. Um Neues anzufangen und auszuprobieren und um neuen Mut zu fassen. Nach Stürmen ist die Luft gereinigt, es lässt sich durchatmen und klarer denken.

Auf Sturm folgt Ruhe

Auch hier gilt: kein Druck. Nicht alles kann Mittel zum Zweck, nicht jede Not zur Tugend werden. Dauerhafte Entspannung, meditative Ausgeglichenheit und relaxte Multitasking-Souveränität sind das Evangelium unserer Zeit. Das sind verständliche und erstrebenswerte Ziele. Doch sollte der Wunsch nach Work-Life-Balance nicht in jene Richtung gehen, der sie eigentlich als Gegengewicht dienen soll? Der Forderung nach Selbstoptimierung in allen Lebensbereichen?

Wenn wir uns, auch in privaten Bereichen, fortwährend regulieren in dem Versuch, unser Seelenleben einer sanft dahinwiegenden Wasseroberfläche anzugleichen, die ohne zu große Bewegungen auskommt, lassen wir außer Acht, dass ruhige Wogen manchmal Stürme voraussetzen. Wäre unsere Seele in einem lieblichen Dauerzustand ohne Brüche und Wellen, wüssten wir nicht, wie süß und grauenvoll Schmerz und Verzehren sein können, wie ekstatisch Leidenschaften sind.

Es ist die Ambivalenz des Lebens, die einen bis in die dunkelsten Tiefen in sich selbst hineinspüren lässt. Das gesamte Spektrum an Gefühlen, von lauen Lüftchen über nie gekannte Orkane auf dem Grund unseres Daseins mit allen paradoxen Regungen des Herzens – es macht uns wahnsinnig. Es wirbelt uns durch. Und all diese Facetten, die unser Gefühlsleben in dunkelbunte Landschaften wandelt, lässt uns zu Wanderern zwischen Sturm und Alltag werden. Happy Ends nicht garantiert. Eines dagegen schon: Wir spüren. Und schöpfen tief aus unseren seelischen Vollen. <

Dieser Text stammt aus dem AUSZEIT-Magazin.

Bildquellen: © Raphael Hilliger