Nach einigen Jahren Beziehung verlieren wir oft den Blick für das liebenswerte Wesen unseres Herzensmenschen. Die Folge: Die emotionale Verbindung zu ihm bröckelt – bis wir irgendwann getrennte Wege gehen. Dann ist das Bedauern über den Verlust groß. Doch Dankbarkeit kann ein wertvoller Helfer sein, um das Liebesglück langfristig aufrecht zu erhalten. 

Erinnern wie uns daran, wie alles begann: Das wundervollste und ansteckendste Lachen der Welt. Gänsehaut durch zärtliche Berührungen. Das Schwirren der Schmetterlinge im Bauch. Stundenlange nächtliche Telefonate. Der erste Kuss. Tanzen im Regen. Gemeinsam die Zeit vergessen. Bei den herzerwärmenden Erinnerungen an die Kennenlernphase huscht uns ein Lächeln durchs Gesicht, oft gefolgt von einem wehmütigen Seufzer. „Ach, wie schön war es doch am Anfang!“

Die rosa-rote Brille abgesetzt

Ein Blick durch die Wohnung holt uns zurück auf den Boden der Tatsachen. Und da liegen sie: die verschmutzten Socken neben dem dreckigen T-Shirt! Schon weicht dieses warme und beglückende Gefühl, indem wir gerade noch schwelgten, trotziger Ernüchterung. Zwischen dem Menschen, in den wir uns damals verliebten, und der Version von ihm, mit der wir heute zusammenleben, liegen offenbar Welten. „Wie kann es sein, dass es sich dabei um ein und denselben Menschen handelt?“, fragen wir uns. Dann aber wird uns bewusst, dass wir in der Verliebtheitsphase – und dank der viel zitierten „rosa-roten Brille“ – die Macken und Eigenheiten unseres Herzensmenschen nicht wahrgenommen haben. Dieser wurde nämlich nicht von Außerirdischen entführt und gegen ein identisch aussehendes Exemplar ausgetauscht. Er ist immer noch der gleiche – und was uns in diesem Moment erschüttern mag, ist aber gleichzeitig auch Teil der Lösung.

Der magische Moment

In dieser Übung nehmen wir und unser Herzensmensch uns gemeinsam Zeit dafür, um uns an den „magischen Moment“ unseres Kennenlernens zurückzuerinnern. Wir tauschen uns mit ihr/ihm (gern detailliert) darüber aus, wie es uns erging, als wir uns verliebten. In welcher Situation geschah das? Wie sah die Umgebung aus? Wie hat es sich angefühlt?  Diese Übung trägt dazu bei, wieder in das Gefühl der Verbundenheit zu kommen. Das führt dazu, dass wir einander mit den Augen der Dankbarkeit sehen.

Unmöglich zu erfüllende Bedürfnisse

Mitunter einer der gravierendsten Fehler, den Menschen in Beziehungen begehen, fußt auf einem großen Irrtum. Das fällt mir immer wieder in meiner Arbeit mit Paaren und Singles auf. 

Zu Beginn einer Partnerschaft haben wir gewisse Erwartungen an unseren Herzensmenschen. Es ist davon auszugehen, dass er versucht, den Erwartungen bestmöglich zu entsprechen. Schließlich möchte er uns gefallen und gibt daher alles, um unsere Bedürfnisse in verschiedenen Bereichen zu erfüllen. Auf lange Sicht jedoch wird das für unseren Lieblingsmenschen sehr anstrengend, verständlicherweise. Hat er doch anfangs uns zur Liebe auch Dinge getan, die gar nicht seinem wirklichen Naturell entsprechen oder an denen er eigentlich gar nicht so viel Freude hat. 

Schon der bekannte deutsche Paartherapeut Michael Mary entdeckte das Phänomen des „AMEFI-Komplex“. Gemeint ist damit: „Alles mit einem für immer.“ Dass es aber keinen Menschen auf der Welt gibt, der langfristig all unsere Bedürfnisse stillen kann, wollen die meisten von uns nicht wahrhaben. Und so ziehen wir nach einigen Jahren Beziehung weiter zur nächsten und erhoffen uns darin „endlich“ Erfüllung zu finden. 

Jeder von uns hat sicherlich nach einer Trennung schon einmal zu seiner besten Freundin/seinem besten Freund gesagt: „Ach, sie/er war einfach nicht die/der Richtige.“ 

Paar redet in der Küche

Dankbarkeit als Weg von der Verliebtheit zur Liebe

Jede Beziehung durchlebt verschiedene Phasen. Nach der Verliebtheitsphase werden wir oftmals extrem kritisch und sehen jeden noch so kleinen Makel bei unserem Lieblingsmenschen mit dem Vergrößerungsglas. Leider führt dies bereits häufig dazu, dass Beziehungen (unnötigerweise) vorzeitig beendet werden. In dieser Phase ist es besonders wichtig, sich der Stärken und liebenswerten Eigenschaften des Herzensmenschen bewusst zu werden. Dies kann dazu beitragen, dass sich aus der Verliebtheit irgendwann tiefgründige Liebe entwickelt.

Eine reife und erwachsene Liebe leben

In meiner Praxis vermittle ich den Grundsatz, dass wir alle erwachsene Menschen sind, die selbst für die Erfüllung ihrer eigenen Bedürfnisse zuständig sind. Und ja: Auch ich musste das lernen. In der Zeit vor meinen Ausbildungen und persönlichen Erkenntnissen war ich ebenso in dieser Vorstellung gefangen, dass mein Herzensmensch mich durch die Erfüllung meiner Bedürfnisse glücklich machen müsse. Das führte zu schwierigen Dynamiken innerhalb der Beziehungen und immer wieder der gleichen Ernüchterung nach gewisser Zeit. Irgendwann kam ich an den Punkt, zu erkennen, dass – überspitzt formuliert – kein Mensch extra für mich geboren wurde, nur um meine Bedürfnisse zu stillen. 

Wir halten uns in vielen Lebensbereichen für fortschrittlich und selbstständig. Im Bereich „Liebe und Partnerschaft“ leben aber die meisten von uns keine wahrhaftig reife und erwachsene Liebe. Viel eher laufen wir als verletze Kinder in erwachsenen Körpern durch die Welt und betteln um Liebe und Anerkennung. Die Ausgangssituation, wenn wir uns auf Partnersuche begeben, ist also Bedürftigkeit. Zwei Bedürftige haben einander nicht viel zu geben – ähnlich wie Bettler, die sich gegenseitig in die Taschen greifen. Sich darüber bewusst zu werden, ist der erste Schritt in die richtige Richtung. 

Selbstliebe als erster Schritt

Zunächst einmal dürfen wir Eigenverantwortung übernehmen. Dabei ist es egal, ob wir uns in einer Beziehung befinden, oder gerade auf Partnersuche gehen. Die Reise fängt immer bei uns selbst an. Wie auch schon an anderen Stellen in dieser Ausgabe beschrieben, haben wir uns erst einmal selbst darüber klar zu werden, wofür wir dankbar sind und es auch sein können. Auch vermeintliche Selbstverständlichkeiten, wie einen guten Job und eine schöne Wohnung zu haben, zählen.

Dabei hilft oft auch schon, die Erwartungen an „gut“ und „schön“ nicht übermäßig hoch zu hängen, damit stehen wir uns oft selbst im Weg. Diese kleine Übung trägt dazu bei, dass wir uns unserer persönlichen Stärken bewusst werden. Wir sehen: „Hey, ich habe mir selbst einiges zu geben!“ Das entzieht der Bedürftigkeit als Motiv für eine Partnersuche einen Großteil des Nährbodens. Das positive Gefühl der Eigenermächtigung und Fülle stellt sich ein. Eine größere Herausforderung mag es sein, ebenso für die Eigenheiten dankbar zu sein, die in unseren Augen weniger angenehm oder perfekt sind. Hier können wir aber eine andere Perspektive einnehmen. Es gibt viele Menschen, die mit gutem Beispiel vorausgehen und aus ihren vermeintlichen Schwächen eine Stärke gemacht haben. So sehen wir beispielsweise in Modemagazinen immer öfter Models mit Pigmentstörungen. Es sind schlussendlich oft diese „Makel“, die uns besonders und einzigartig machen. Auch Sommersprossen sind doch nur einfach liebenswert!

Liebe als Geschenk

Erkennen wir, was wir selbst uns und anderen Wertvolles geben können, haben wir eine ganz andere Ausgangssituation. Plötzlich sind wir kein bedürftiges, abhängiges Wesen mehr, das „Liebe“ als Tauschgeschäft sieht. Viel mehr bereitet es uns Freude, Liebe freimütig zu schenken.

Ohje, da höre ich im Hintergrund ein leises Stimmchen, das flüstert: „Sicherlich werde ich ausgenutzt! Somit mache ich mich durch diese Sichtweise angreifbar!“ Eigenverantwortlich zu handeln bedeutet zugleich, dass wir uns abgrenzen. Es ist somit unsere eigene Aufgabe, anderen Menschen liebevoll Grenzen aufzuzeigen. Stellen wir uns andererseits einmal vor, jeder Mensch würde Liebe als ein Geschenk betrachten, das wir einem anderen Menschen aus freien Stücken zukommen lassen. Die Folge wäre, dass es keine Gefahr mehr von Ausnutzung gäbe. Viel eher wären Beziehungen erfüllt von Liebe und Dankbarkeit – Dankbarkeit für sich selbst und den Herzensmenschen. 

Paar Bett springend

Ich bin dir dankbar!

Für die partnerschaftliche Dankbarkeitsübung benötigen wir etwas Zeit und eine ruhige Umgebung. Wir setzen uns unserem Herzensmenschen gegenüber. Nun hat jeder zehn Minuten Zeit, um seinem Lieblingsmenschen einige Aspekte zu nennen, für die er ihm dankbar ist. Der andere hört in dieser Zeit nur zu und unterbricht nicht. Nach Ablauf der ersten zehn Minuten wird gewechselt. Hinweis: Es soll hier kein Wettstreit darüber ausbrechen, wer am Ende der Übung mehr Punkte aufgezählt hat. Das erzeugt unnötig Druck und ist kontraproduktiv.

Empfinde tiefe Dankbarkeit für eure geteilten Momente …

Nach der „rosa-roten Brille“ folgt die „schwarz-weiße Brille“ – oder doch nicht? Richten wir zu Beginn einer Beziehung das Augenmerk auf die wunderbaren Aspekte, die unser Lieblingsmensch in sich trägt, so weicht dieses Bild nach der Verliebtheitsphase der Ernüchterung. Doch, was können wir nun tun, um uns unserem Herzensmenschen wieder verbundener zu fühlen? Hier kann ebenfalls die Dankbarkeit helfen: Wir weiten sie auf unseren Partner aus. Welche Eigenschaften und Merkmale haben mein Herz damals besonders schnell schlagen lassen? Für welche gemeinsamen Erlebnisse – auch herausfordernder Natur – bin ich dankbar? Welche Macken bringen mich vielleicht zum Schmunzeln, sodass ich schlussendlich dafür dankbar sein kann? 

Sobald wir uns von unseren Erwartungen an unser Gegenüber trennen, erkennen wir in ihm voller Liebe und Dankbarkeit den wundervollen Wegbegleiter, der schon so lange an unserer Seite ist. Wir teilen unsere schönen, lustigen, traurigen und schwierigen Momente miteinander. Es entsteht eine Verbindung – eine gemeinsame Geschichte – daraus. Wir sind miteinander „verwoben“. Sich darüber bewusst zu werden, dass wir und unser Herzensmensch sich tagtäglich neu füreinander entscheiden, lässt uns demütig und dankbar werden. Dieser Mensch hat schließlich immer das Recht dazu, sich eines Tages anders zu entscheiden. Selbst, wenn dies geschieht, können wir in der Position eines Dankbaren verweilen. Von unseren Mitmenschen kennen wir die Aussage: „X & Y haben sich getrennt. Ihre Ehe ist nach zehn Jahren gescheitert. So etwas Trauriges!“ Bei uns hat sich deshalb der Glaubenssatz daran, dass Beziehungen scheitern können, verinnerlicht. 

Uns bleibt alternativ die Perspektive der Dankbarkeit für viele gemeinsame Jahre, die wir Seite an Seite miteinander erlebt und auch bewältigt haben. Jede Beziehung ist somit ein wunderbares Geschenk – selbst dann, wenn sie anstrengend und nervenaufreibend war. Sollte dies der Fall sein, haben wir die Chance, sehr viel über uns selbst daraus zu lernen. Aus der Sicht der Dankbarkeit haben wir die Möglichkeit, zu erkennen, welche „unaufgelösten persönlichen Baustellen“ uns in der Beziehung gespiegelt wurden. All dies sind Erkenntnisse, für die wir im Sinne der persönlichen Weiterentwicklung dankbar sein können. 

Konflikte lösen

Auch in Konfliktsituationen ist es möglich, eine dankbare und liebevolle Haltung unserem Herzensmenschen gegenüber zu bewahren. Es gilt, den Konflikt losgelöst von unserem Gegenüber zu sehen. Stattdessen erkennen wir ihn als drittes Konstrukt. Wir dürfen nun gemeinsam als Team auf dankbare und liebevolle Weise damit umgehen. Jede Konfliktsituation trägt zudem dazu bei, dass wir eigene emotionale Wunden aus unserer Kindheit erkennen und diese heilen dürfen.

… und zeige diese Dankbarkeit

Wie zeige ich meinem Lieblingsmenschen im Alltag, dass ich dankbar für ihn bin? Reichen Blumen, eine Massage zum Geburtstag oder Valentinstag aus? Der Übergang von Dankbarkeit zur liebevollen Wertschätzung ist fließend. Wenn wir uns auch in unserem stressigen Alltag einige Minuten zur Besinnung nehmen, um uns aktiv für das Gefühl von Liebe und Dankbarkeit unserem Herzensmenschen gegenüber zu öffnen, ist der erste Schritt getan. Es müssen nicht immer materielle Geschenke oder Aufmerksamkeiten sein. Oftmals zeigen wir in kleinen liebevollen Gesten unserem Partner gegenüber unsere Dankbarkeit und somit Wertschätzung. Egal, ob wir ihm ein herzliches Lächeln schenken, ihn an die Hand nehmen und ihm ein zärtliches „ich liebe dich!“ ins Ohr flüstern oder ihn nach einem stressigen Arbeitstag mit seiner Lieblingsspeise überraschen: Wichtig ist dabei das aufrichtige, herzliche Gefühl der Verbindung. Denn genau das ist es, was unser Lieblingsmensch als ehrliche und liebevolle Dankbarkeit im Herzen spürt.

Isabelle Maria Kühler

Über die Autorin
Isabelle Maria Kühler ist als Coach, Psychologische Beraterin und Paarberaterin in Düsseldorf tätig. Sie unterstützt insbesondere hochsensible Frauen dabei, persönliche Herausforderungen im Bereich „Liebe und Partnerschaft“ anzugehen. Hierbei ermöglicht ihre eigene Hochsensibilität und das damit einhergehende besondere Verständnis, dass die Klientinnen mit Hilfe von speziellen Coachingmethoden den Weg in eine glückliche und erfüllte Partnerschaft finden. 

Instagram: @isabelle.maria.kuehler

Website: www.imk-coaching.de

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