Unsere Kindheit ist etwas, an das wir uns mit Nostalgie erinnern. Aber warum haben wir meist nur schöne Erinnerungen an die Kindheit? Und was ist aus diesem Kind, das wir einst waren, passiert? Dieser Artikel ist allen Pippi Langstrümpfen und Peter Panen gewidmet, die mal wieder Kind sein wollen.

Oft stelle ich mir die Frage, wie es wohl wäre, in der Zeit zu reisen und wieder Kind sein zu dürfen. Wenn auch nur für einen Tag. Wie wäre es wohl, einen Tag der Unbeschwertheit zu genießen? Sich treiben zu lassen, zu spielen, sich umsorgen zu lassen. Zurück in einer Zeit, in der die größte Sorge war, mit wem man sich zum Spielen verabredet. Zurück in einer Zeit, in der man die Punkte auf Marienkäfern gezählt hat und stundenlang nach vierblättrigen Kleeblättern gesucht hat.

Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich schmunzle, während ich mich in Tagträumen über meine Kindheit verliere. Ich denke an das kleine Mädchen, das ich damals war. So sensibel, so neugierig, so träumerisch und voller Ideen und Fantasien. So empfindlich, empathisch, aufnahmefähig und hinterfragend. Ich denke gerne an jene Zeiten zurück, auch wenn sie nicht immer so einfach und unbeschwert waren, wie ich sie gerne erinnere. Warum ist es wohl so, dass wir unsere Kindheit idealisieren? 

Kindheitserinnerungen wiederbelebt

Die meisten von uns denken nur sehr selten an ihre Kindheit zurück. Wer von uns hat denn schon Zeit, in nostalgischen Erinnerungen zu schwelgen, bei all den Verantwortungen, die wir haben? Bei all den Rechnungen, die bezahlt werden müssen. All der Arbeit, der Schnelllebigkeit, dem Alltag.

Doch bei gelegentlichen Besuchen bei unserer Familie, wo alte Familienalben rausgekramt werden, zaubern jene seltenen Momente der Erinnerung ein melancholisches Lächeln auf unser Gesicht. Ein Lächeln, das unzählige – wenn auch etwas verschwommene – Erinnerungen an unser damaliges Kind wiedergibt. Erinnerungen an unseren jungen Geist voller Aufgeschlossenheit und Fantasie. Erinnerungen an eine unbeschwerte Zeit, in der wir alles ohne Ängste ausprobiert haben, Verbote ignoriert haben, auf Bäume geklettert sind, Höhlen gebaut haben, Gefühle ohne Wertung (und ohne Scham) rausgelassen haben. Erinnerungen daran, wie wir immer weiter dazu gelernt haben und uns jeden Tag neu erfunden haben.

All diese Erinnerungen spielen sich vor unserem inneren Auge binnen Sekunden ab. Doch nach einer kurzen Weile verblassen diese Erinnerungen wieder. Und mit ihnen unser sentimentales Lächeln. Unsere Mundwinkel fallen wieder ab und unsere Gesichtsmuskulatur wird wieder starrer, angespannter. Wir erlauben uns meist nur einen kurzen Moment des Tagträumens, seufzen „das waren schöne Zeiten“ und kehren rasch wieder zurück zu unserem Erwachsenen-Ich. Der Identität, die wir kreiert haben, um uns dem Ernst des Lebens zu widmen.

Aber was zur Hölle ist dieser Ernst des Lebens überhaupt? Gehört es wirklich zum Leben dazu, im Alter seine Lebensfreude zu verlieren? Denn wofür sind wir schließlich alle hier? Um jeden Tag voller Regeln, Arbeit, Ernsthaftigkeit und Zynismus zu leben? Was ist aus unserem inneren Kind geworden, dass voller Lebensfreude über den Rasen gelaufen ist, stundenlang Wolken am Himmel beobachtet hat, jeden Morgen mit einem Lachen begonnen hat und voller Mut und Tatendrang jeden Tag so gelebt hat, als wäre es der letzte?

Das innere Kind

Dank des Bestsellers „Das Kind in dir muss Heimat finden“ von der Psychologin und Autorin Stefanie Stahl wurde der Begriff des inneren Kindes in Deutschland geprägt und bekannt. In ihrem Buch beschreibt sie das innere Kind als Symbolbild unseres Unterbewusstseins, während unser Erwachsenen-Ich unser Bewusstsein darstellt. Dabei hat jeder von uns ein sogenanntes Sonnenkind (das durch positive Erfahrungen geprägt wurde) und ein Schattenkind (das durch negative Erfahrungen geprägt wurde). Die Arbeit mit unserem inneren Kind kann uns daher aufschlussreiche Erkenntnisse und tiefe Einblicke unserer limitierenden Glaubenssätze, Konditionierungen, Träumen und prägenden Erfahrungen geben. Erfahrungen, die tief in unserem Unterbewusstsein verankert sind und unsere Handlungen im Alltag beeinflussen – und uns manchmal sogar davor zurückhalten, unser volles Potenzial zu leben.

Das innere Kind tief verstecken gelernt

Wir alle haben es irgendwo in uns – dieses Kind, das wir einst waren. Diese Neugier, Freude und Kreativität. Doch wir erlauben uns nicht, dieses Kind in uns zum Spielen einzuladen. Stattdessen schicken wir es in sein Zimmer, stellen es in die Ecke und verbieten ihm das Wort. Schließlich sind wir alle erwachsen. Wir dürfen nicht albern sein, geschweige denn träumerisch. Traumtänzer sind doch Verlierer, oder? Das wurde uns zumindest so erzählt.

Und je älter wir werden, desto mehr solcher Konditionierungen manifestieren sich in unserem einst so freien Geist. Je älter wir werden, desto mehr Zäune bauen wir um uns herum auf und desto limitierter sind wir in unserer Sichtweise. Und das Schlimmste daran ist, dass wir jene Konditionierungen sogar als Weisheit oder Expertise missverstehen. Damit werden wir immer festgefahrener in unseren Handlungen, unserer Wahrnehmung und sogar unseren Gedanken. Und all das, weil wir glauben, wir wüssten genau wie der Hase läuft.

Aber in Wirklichkeit wissen wir gar nichts. Wir wissen nicht ein mal mehr, dass der Hase hoppelt und nicht läuft. Denn wenn wir ehrlich sind, machen wir alle nur bestmöglich das nach, was unsere Eltern uns vorgelebt haben. Dabei wussten auch die nicht, was sie taten. Auch sie versuchten nur bestmöglich ihre Eltern nachzuahmen und das Bild eines Erwachsenen zu vermitteln. Bis auch sie ihr inneres Kind vollkommen verdrängt und verstummt haben. 

Arbeit mit dem inneren Kind

Eine kraftvolle Übung, um mit deinem inneren Kind zu arbeiten, ist mit deinem jüngeren Selbst zu meditieren. Setze dich dabei gemütlich und mit geradem Rücken hin und versetze dich zunächst in einen meditativen Zustand. Bringe deine Aufmerksamkeit dabei auf deinen Atem und beobachte, wie sich dein Bauch mit jedem Einatmen hebt, und mit jedem Ausatmen wieder senkt. Entspanne deine Gesichtsmuskulatur und lass deinen gesamten Körper schwer werden.

Wenn du dich komplett entspannt und im gegenwärtigen Moment fühlst, fange an dein jüngeres Selbst zu visualisieren. Stell dir vor, dein inneres Kind sitzt vor dir. Begegne dir komplett wertfrei und voller Liebe. Spüre dabei deine kindliche Energie, deine Freude und Neugier, aber auch deine Unsicherheit und Hilflosigkeit. Spüre sowohl das Sonnenkind als auch das Schattenkind in dir. Und stelle dir vor, wie du dein jüngeres Selbst umarmst und dir Liebe, Güte und Vergebung schenkst. Sag dir selbst, dass alles gut wird. Dass du gesehen wirst, dass du sicher und geborgen bist. Und dass du dir selbst erlaubst, wieder Lebensfreude zu spüren. Vergebe auch deinem Erwachsenen-Ich. Schenke dir Liebe und Güte.

Und verbleibe in deiner Meditation für einige Minuten. Spüre die innige Umarmung von dir selbst. Spüre deine innere Kraftquelle, deine Geborgenheit. Wann auch immer du dich bereit fühlst, nimm einen tiefen Atemzug durch die Nase ein und einen Seufzer durch den Mund aus. Erlaube, das Bild deines inneren Kindes wieder loszulassen – in der Gewissheit, dass es immer bei dir ist. Und öffne langsam deine Augen.

Das „Erwachsen-Sein“ ist doch nur gespielt

Eine Zeit lang machte ich bei diesem Spiel mit. Auch ich machte mir selbst und allen anderen etwas vor und tat so, als wüsste ich genau was ich tat. Ich wollte mir selbst und allen anderen beweisen, wie reif und erwachsen ich war. Wie gut ich mein Leben im Griff hatte, wie ambitioniert ich meine Karriere verfolgte und wie erwachsen ich meinen Lebensunterhalt selbst finanzierte.

Bis ich mir bewusst wurde, wie kindisch das eigentlich war (ironischerweise). Die Eingebung, dass meine erwachsenen Werte kindisch waren, war für mich eine der größten Offenbarungen meines bisherigen Lebens. Auf einmal sah ich ganz deutlich, dass alle Erwachsenen eigentlich nur große Kinder waren, die eine Rolle spielten.

Es erinnerte mich daran, wie ich als Kind immer „Erwachsen-Sein“ spielte. Ich hatte damals eine derartige Faszination für erwachsene Menschen. Mich faszinierte das Geräusch von manikürten Nägeln, wenn Frauen etwas auf ihrer Tastatur tippten. Mich faszinierte das Klackern ihrer Absatzschuhe, wenn sie in ihrem eleganten Business-Look von A nach B liefen. Ich ahmte sie nach, spielte stundenlang, dass ich erwachsen sei und konnte es nicht abwarten selbst einer dieser „weisen“, erwachsenen Menschen zu sein. Wenn ich gewusst hätte, wie limitiert und planlos das Erwachsen-Sein in den meisten Fällen wirklich ist, hätte ich mich lieber wieder meinen Puppen gewidmet. 

Don‘t grow up. It‘s a trap

Peter Pan

Der Ernst des Lebens

Mir wurde klar, dass ich um keinen Preis so werden wollte, wie jene Erwachsenen, die ihr inneres Kind und mit ihm all ihre Lebensfreude unterdrückten. Ich wollte nicht so zynisch und festgefahren werden wie sie. Also lud ich mein inneres Kind gelegentlich wieder zum Spielen ein. Was hatte ich schon groß zu verlieren – den Ernst des Lebens? Von mir aus!

Ich erlaubte mir wieder neue Dinge zu lernen, jeden Tag zu wachsen, neugierig zu sein und mir einzugestehen, dass ich nichts wusste. Und mit jedem neu Erlernten, stellte ich nur noch mehr fest, wie wenig ich eigentlich wusste. Ich erlaubte mir wieder zu träumen und meinen Träumen nachzugehen – ganz entgegen vieler Menschen um mich herum, die es meinten besser zu wissen. Entgegen jener Erwachsenen, die immer noch Zäune um ihre Gärten und sich herum bauen, anstatt mal über den Rasen zu laufen. Ich erlaubte mir gegen die Regeln zu tanzen und entdeckte dadurch wieder eine Lebensfreude in mir, die so pur und so bedingungslos war, dass sich mein Leben seitdem um 180 Grad gedreht hat. Ins Positive natürlich.

Ich spüre jene Faszination für die kleinen Dinge des Lebens, ergänzt durch Gegenwärtigkeit und Achtsamkeit. Ich spüre diese spielerische Energie in mir, ergänzt durch Tiefe und Reflektion. Ich fühle mich mehr verbunden mit meinem inneren Kind denn je. Vermischt jedoch mit einem Bewusstsein und einer inneren Erdung, die ich über die Jahre hinweg im erwachsenen Alter erhalten habe.

Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass ich heute viel mehr das Mädchen aus meiner Kindheit bin, als je zuvor. Weil ich mir erlaube ich zu sein. Weil ich mir erlaube meine Sensibilität, Kreativität und mein wahres Ich unverschleiert zu zeigen – ganz ohne Fassade. Und ich staune immer wieder, welch magische Dinge möglich sind, wenn man sich wieder für Magie öffnet. Und das ganz ohne Realitätsflucht. Schließlich sind wir doch alle die Schöpfer unserer eigenen Realität. Warum können wir jene Schöpferkraft dann also nicht dafür nutzen, unsere Realität so zu gestalten, wie sie uns gefällt?

Wie du wieder Kind sein kannst

* Tipp 1: Mach jeden Tag etwas komplett Albernes. Erlaube dir, dich ein Mal täglich mit deiner Albernheit zu überraschen und über dich selbst zu lachen. 

* Tipp 2: Nimm dir einen Tag im Monat, in dem du dein inneres Kind einen ganzen Tag lang zum Spielen einlädst. Suche dir einige Dinge deiner Peter-Pan-Liste oben aus und fülle deinen Tag mit jenen Dingen, die dich wieder wie ein Kind fühlen lassen.

* Tipp 3: Schaffe dir ein Malbuch an und erlaube dir wieder kreativ zu sein. Das Ausmalen von Bildern beruhigt zudem dein Nervensystem und ist eine wundervolle Achtsamkeitsroutine.

Wieder Kind sein!

Doch wie stellen wir das an? Wie befreien wir uns wieder von den Konditionierungen, die in unserem Unterbewusstsein festgefahren sind? Wie laden wir unser inneres Kind zum Spielen ein, ohne dabei komplett realitätsfremd durchs Leben zu laufen und all unsere Verantwortungen zu ignorieren? Denn Lebensfreude hin oder her: Unsere Brötchen müssen wir uns trotzdem irgendwie verdienen.

Meiner Erfahrung nach fängt alles mit einer simplen Erlaubnis an. Denn ebenso wie in unserer Kindheit selbst, in welcher wir meist die Erlaubnis unserer Eltern brauchten, um uns zum Spielen verabreden zu dürfen, braucht unser inneres Kind die Erlaubnis von unserem Erwachsenen-Ich. Und in jener Erlaubnis steckt eine unfassbare Kraft und gleichzeitig eine unfassbare Milde. Sich zu erlauben wieder zu genießen, zu basteln, zu tanzen, zu lachen und zu träumen – trotz, oder gerade wegen der vielen Verantwortungen – sind so simple Gesten, mit so großer Wirkung.

Von Zeit zu Zeit wieder Kind zu sein, bedeutet nämlich nicht etwa verantwortungslos und naiv durchs Leben zu gehen. Viel mehr ist es eine Art Leichtigkeit und eine spielerische, neugierige, fantasievolle Energie, die wir in unser Leben einladen können. Es geht darum einen vorrübergehenden Rückzugsort in uns selbst zu schaffen. Einen Ort der Geborgenheit, wo wir Inspiration und Kraft gewinnen können. Sein inneres Kind aber erst mal wieder aus der Ecke zum Spielen einzuladen, kann eine Weile dauern. Es ist also Geduld und Güte gefragt.

Die ersten Versuche, bei denen wir uns bewusst erlauben, wieder Kind zu sein, sind besonders spannend. Was passiert, wenn wir uns für einen Moment erlauben, albern zu sein? Welche Resistenz kommt im Körper und Geist auf, wenn wir etwas komplett Intuitives, nicht Durchdachtes tun? Wie fühlt es sich an, wertlos und offen Menschen gegenüber zu begegnen? Jeder macht andere Erfahrungen mit seinem inneren Kind.

Aber eines kann ich schon mal verraten: Es wird dein Leben verändern. Also trau dich wieder ein bisschen mehr Pippi Langstrumpf oder ein bisschen mehr Peter Pan zu sein. Sei die beste Mutter oder der beste Vater für dein inneres Kind und bring wieder ein wenig mehr Leichtigkeit und Farbe in den grauen Alltag des Erwachsen-Seins.

Ich mach‘ mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt.

Pippi Langstrumpf

Paulina Kulczycki

Paulina Kulczycki ist Yogalehrerin, Autorin und intuitive Künstlerin und lebt als kreative Nomadin zwischen Bali und Barcelona. Ihre Leidenschaft gilt der Verbindung von Kreativität und moderner Spiritualität, sowie dem Prinzip der Weiblichkeit und Mondenergien. Paulinas Vision ist es, Frauen über den Weg des Zyklusbewusstseins, der Achtsamkeit und der intuitiven Kreativität zurück in ihre Schöpferkraft zu bringen.

Podcast: Soul Flow Podcast (auf Spotify, iTunes & co.)

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