War ich blind? Habe ich in meinem Leben übersehen, dass ich ständig wieder am gleichen Warnschild vorbeigefahren bin? An welchem Punkt habe ich nicht mehr geschaltet?

Achtsamkeit. Dieses Wort ist mir bereits als Kind begegnet, wenn meine Mutter zu mir sagte: Vorsicht. Sei achtsam, dass dir das Glas mit der Milch nicht aus der Hand fällt. Pass auf.  Also passte ich auf. Ich passte so sehr auf, dass beim Essen gehen mit meinen Eltern fast routinemäßig Gläser umfielen.

Ich war achtsam, wenn ich auf Bäume kletterte und mit einem angeknacksten Knöchel nach Hause kam. Da war eben dieser dünne Ast, den ich in seiner Tragfähigkeit unterschätzt hatte. Voller Achtsamkeit rammte ich mir die Ecke eines Fensters in den Kopf, hatte blutige Knie, weil es nicht die geschickteste Übung war, beim Fahrradfahren die Beine auf den Lenker zu legen. Das waren frühkindliche bis jugendliche Unaufmerksamkeiten. Dabei passte ich doch immer so gut auf mich auf.

… und dann kam das Leben

Im Verlauf meines Lebens hat mich jede Form der Achtsamkeit verlassen. Ich stresste mich durch den Tag mit drei Kindern, einem Mann, der nicht der Richtige war. Mit 35 Jahren beschloss ich hochschwanger Psychologie zu studieren, nahm umfangreiche Studentenjobs an, schrieb Nächte durch, denn mein eigentliches Lebensziel war es, Schriftstellerin zu werden.

Ich nahm alles in Kauf, schaffte dies und das, war unter ständigem Druck bis zur Scheidung und stand plötzlich alleine da mit drei Kindern, einem abgebrochenem Studium nach sechs Semestern, Schulden, Depressionen und einem Körper, der erhebliche Schwächen zeigte. Zu diesem Zeitpunkt hätte mir ein bisschen Achtsamkeit vielleicht fünf harte Jahre in meinem Leben erspart, wenn ich die Bremse gefunden hätte, mein Leben zu entschleunigen, auf mich zu achten, in mich zu gehen, die Reißleine zu ziehen.

Alle Zeichen standen auf Rot und ich fuhr weiter über rote Ampeln.

Bereits mit 24 Jahren hatte ich aufgrund einer rheumatologischen Erkrankung einen Schlaganfall erlitten. Nach der Trennung von meinem Mann kam ein Krampfanfall dazu, dann der nächste und so ging es weiter. Das durfte alles gar nicht sein, denn das passte nicht in mein Leben. Ich tanzte Ballett, machte eine Theaterausbildung, liebte meinen durchtrainierten Körper, aß, wenn der Hunger sich nicht mehr unterdrücken ließ und rauchte, als ginge es um mein Leben.

Ich weiß nicht, wie es mir gelungen ist, eine aufmerksame und liebevolle Mutter zu werden und mich selbst zu übersehen. Ich nahm an meinem eigenen Leben längst nicht mehr teil. Körperfixiert war mir meine Schönheit, meine Attraktivität bewusst, was meine Seele betraf, wenn es sie gibt, hatte ich sie in die Dunkelheit geschickt. Ziellosigkeit überrannte mich.

Ich fühlte mich leer

Als ich meinen neuen Partner kennenlernte, wurde es wieder hell im Leben. Eine Blaseninfektion nach der anderen brachte mich dazu, auch ein Antibiotikum nach dem anderen zu nehmen. Mein Körper verkraftet viel. Der Zusammenbruch kam nach einem Jahr, in dem ich alle zwei Wochen Antibiotika genommen hatte.

Ich hätte zu diesem Zeitpunkt jemanden gebrauchen können, der mir zuruft: Was machst du da? Bist du irrsinnig? Sei endlich achtsam. Doch ich war nicht achtsam. Ohne jede Verantwortung mir und meinen inneren Zuständen gegenüber trat ich weiter aufs Gas, drehte mich im selben Kreis. Immer und immer wieder. Es kam, was kommen musste.

Nichts geht mehr

Im Juni 2012 konnte ich nicht mehr richtig laufen. Mein rechtes Bein hinkte einsam hinter mir her. Mir ging es nicht gut. Mein trainierter Körper war dabei, zu versagen. Wenig später bekam ich die Diagnose MS. Ich konnte es nicht glauben, war wie versteinert. Und ich machte weiter. Die MS war nach Aussage der Radiologin moderat. Kein Grund zur Panik und weiter im vierten Gang ab durch die Mitte. Es ging nicht lange gut. Ein Schub folgte dem Nächsten. Unfassbare Schmerzen traten auf, fatigue, restless-leg-Syndrom. Von Woche zu Woche kamen Symptome dazu. Ich quälte mich durch die Arbeit, fiel abends gegen neun Uhr ins Bett. Mein Leben hatte mich Zwangspausen unterworfen. Ich hielt durch – nahe am freiwilligen Ende.

Im Juni 2014 war es fast soweit. Ein Schub ging dicht vorbei am Atemzentrum. Danach war alles anders. Die Schmerzen aufgrund der Spastik wurden weitaus schlimmer, die fatigue führte mich ins Kopfkoma. Ich konnte kaum noch stehen, nicht mehr arbeiten, wurde nach einer Reha nach Hause verbannt und war endlich am Ende angekommen. Der Müll meines Lebens lag vor mir. Es war vorbei.

Die härteste Zeit meines Lebens

Zweieinhalb Jahre habe ich gebraucht, um zu lernen, auf mich aufzupassen, endlich achtsam zu werden, mich Schritt für Schritt wiederzufinden. Es war die mit Abstand härteste Zeit meines Lebens. Ich stellte meine Ernährung radikal um, wurde Woche für Woche wacher. Und mit dem langsamen Wachwerden brach die Verzweiflung immer mehr über mich herein. Was hatte ich gemacht? Was hatte ich aus meinem Leben, das Chancen ohne Ende geboten hatte, gemacht? Einen Scheiterhaufen aus Schmerz, Wut, Ignoranz und Überheblichkeit bis zum Untergang.

Vor dem Beginn meiner Achtsamkeit kam anderes. Ich musste von meinem Inneren, von meiner Seele, meinem Körper regelrecht gezwungen werden, endlich zu begreifen. Diese Stimme in mir, die immer da war, die mich ermahnt hatte, die mir Ratschläge erteilte, nennen wir sie Intuition, hatte ich in all den Jahren zum Verstummen gebracht. Jetzt kam sie sehr langsam wieder zu mir zurück, am Höhepunkt meiner absoluten Verzweiflung. Ich hatte mich verloren, war voller Panik, denn ich fühlte, dass die Einheit von Seele, Geist, Körper in Einzelteile zerbrochen war. Manchmal hatte ich das Gefühl, innerlich wegzufliegen, einfach nicht mehr da zu sein.

Wiedergefunden

Ich habe zu mir zurückgefunden. Ich habe zu meiner Selbstachtung zurückgefunden. Ich bin wieder da. Achtsamkeit. Was ist das? Kann sie helfen, zu heilen? Ist es möglich, von einer so schweren Erkrankung, den Weg zurück zur Gesundheit zu finden?

Ich glaube ja. Nein, ich weiß es sogar. Ich mache wieder Ballettübungen auf der Arbeitsplatte in der Küche. Ich nehme an Literaturausschreibungen teil, erhalte gerade ein Literaturstipendium. Mein Ziel liegt sichtbar vor mir. Meine Intuition sagt mir: Schreiben ist mein Weg und das eigentlich seit mehr als dreißig Jahren. Ich höre auf meine Stimme, habe einen Vertrag bei einem Kleinstverleger unterschrieben. Mein erstes Buch ist fertig. Das Zweite entsteht.

Ich habe mich wiedergefunden. Es war ein steiniger Weg, mir selbst zu begegnen. Ich bin achtsam geworden, höre in mich hinein, begreife und handle. Und das alles war ohne jede Übung möglich, keine Traumreise, keine Meditation, kein Lehrer, der mich an die Hand nahm – nichts.

Zuhören reichte. Mein Körper spricht.


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