Was bedeutet es, zu pilgern? Eine scheinbar einfache Frage, und doch könnten die Antworten nicht unterschiedlicher sein. Ist es nur ein Ortswechsel, eine besonders religiöse Erfahrung oder doch Schritt für Schritt der Weg zu mir? Eins steht auf jeden Fall fest: Jeder geht seine eigene Reise!

Hape Kerkeling brachte das Pilgern mit seinem Bericht „Ich bin dann mal weg“ im Jahr 2007 ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit zurück. Mit der Frage: „Wer bist du?“ bricht er zu seiner Wanderung auf dem Jakobsweg auf und findet jeden Tag eine andere Erkenntnis. Aber was ist eigentlich ein richtiger Pilger, und gibt es überhaupt ein „richtig“?

Das Phänomen des Pilgerns

Nicht erst seit der Gegenwart zieht es Menschen weltweit in die Fremde. Das Phänomen des Pilgerns lässt sich vielmehr bereits seit der Antike beobachten. Rein etymologisch leitet sich der Ausdruck „pilgern“ aus dem Lateinischen von dem Wort peregrinus (oder Plural peregrini) ab und beschreibt das in der Fremde sein. In der Antike und im Mittelalter war das Pilgern von religiösem Charakter. Zu Fuß, zu Pferd, per Schiff oder anderem Transportmittel nahmen Gläubige zum Teil lange Reisen auf sich, um an den Ort ihres Begehrens zu gelangen. Der Anlass lag tief im Glauben der Wallfahrenden verankert und hatte großen Einfluss auf die persönliche Reise. Besonders im Mittelalter unternahmen Pilger eine Wallfahrt, um Buße zu tun, im Bemühen einen Ablass zu gewinnen oder zur Erfüllung eines Gelübdes. Aber auch bestimmte Anliegen oder der Wunsch den Glauben bewusst zu erleben, gaben den Menschen im Mittelalter den Antrieb sich auf ihre Reise zu begeben.

Das Ziel der Reise war dabei abhängig von den Überzeugungen des Pilgernden. Diese, als heilig betrachteten, Orte konnten zum Beispiel Wallfahrtskirchen oder Tempel sein. Bis in die Gegenwart ist das christliche Pilgerwesen eng mit der Reliquienverehrung verbunden.

Prominente Beispiele für Wallfahrtsorte der Christenheit sind das Heilige Land (Jerusalem), Rom oder Santiago de Compostela in Galicien. Weltweit gibt es aber unzählige kleine oder große Wallfahrtsziele, die alle unterschiedlichen Weltbildern gewidmet sind. Aber nicht immer sind es Reliquien, welche die Pilgerziele als solche qualifizieren. Der größte Wallfahrtsort der Welt liegt auf dem Berg Tepeyac, unweit von Guadalupe in Mexiko. Der Überlieferung nach erschien einem 57-jährigen Mann im Jahre 1531 dort die Gottesmutter Maria. Jährlich reisen rund 20 Millionen Menschen nach Guadalupe, um den Ort zu feiern. Aber auch in jüngerer Zeit entwickeln sich Orte immer wieder zu neuen Wallfahrtszielen. Einer dieser Orte ist Medjugorie in Bosnien und Herzegowina. Seit den 1980er Jahren gibt es mehrere Augenzeugenberichte über Marienerscheinungen. Mittlerweile zieht der Ort jährlich mehrere hunderttausend Pilger an.

Ob Menschen auf dem Weg nach Guadalupe in Mexiko, zur Grabeskirche in Jerusalem oder nach Medjugorie in Bosnien und Herzegowina – alle Pilgerinnen und Pilger sind nicht nur auf dem Weg, um heilige Orte zu sehen, sondern sind stets Schritt für Schritt auf einer Reise zu sich selbst.

Was treibt mich zum Pilgern an?

Sozialwissenschaftler der Fernuniversität Hagen haben sich die Beweggründe der Pilger genauer angeschaut und fünf verschiedene Typen bestimmen können:

Der Bilanzierer kann häufig bereits auf viel Lebenserfahrung zurückblicken oder ist von schwerer Krankheit befallen. Dieser Pilgertyp hat das Ende seines Lebens in den Blick genommen und möchte Rückschau halten. 

Der Leidtragende steckt in einer Krise, die er zu überwinden sucht. Verlust und Tod gehören zu den häufigsten Motiven, warum sich dieser Pilgertyp auf den Weg begibt. 

Der Neustarter macht sich auf den Weg, um sich neu zu finden, kündigt er seinen Job oder beendet sogar seine Beziehung, bevor er sich auf den Weg macht. 

Der Übergangspilger begibt sich dagegen auf den Pfad zur Selbsterkennung, da er sich an einem einschneidenden Wendepunkt in seinem Leben befindet und Inspiration für den neuen Lebensabschnitt sucht. Etwa beim Rentenantritt oder nach Beendigung von Schule und Ausbildung. 

Der Auszeiter, möchte für eine kurze Zeit aus seinem gewohnten Alltag ausbrechen. Während der Reise stellt er seine Lebens-Prioritäten infrage und orientiert sich neu.

Auf dem Jakobsweg pilgern

Jede Pilgerfahrt ist immer individuell und etwas Besonderes. Ob in der Vergangenheit oder der Gegenwart, eine solch bedeutsame Reise wird und wurde oft nur einmal im Leben unternommen. Aus diesem Grunde gab es nicht nur im Mittelalter bestimmte Rituale oder Bräuche, um die Pilgerreise aus dem Alltag hervorzuheben. Der Jakobsweg eignet sich durch seine Beliebtheit als gutes Beispiel, um Rituale und Bräuche zu verdeutlichen.

Eine Tradition, die sich erhalten hat, ist das Empfangen des Pilgersegens vor Antritt der Reise und bei der Heimkehr. Auch unterwegs gibt es so manche Rituale, denen sich die Pilgerinnen und Pilger noch heute unterziehen. So werden in ausgewählten Pilgerherbergen am Rande der Jakobswege den Reisenden die Füße bei ihrer Ankunft gewaschen. Eine Handlung, die zur körperlichen Erholung und als Zeichen der christlichen Nächstenliebe, in Erinnerung an die Fußwaschung im Abendmahl, vollzogen wird. Gerade in den letzten Jahren hat sich das Niederschreiben der Eindrücke während der Wanderschaft als beliebter Brauch entwickelt. Ob als persönliches Tagebuch oder als öffentlicher Blog – auch das ist ganz abhängig vom individuellen Charakter des Pilgers.

Die Ankunft in der Kathedrale von Santiago de Compostela ist das Ziel aller Pilger vom Jakobsweg. Beim Eintritt durch das Hauptportal ist es Brauch, die Hand in die Vertiefung der Marmorsäule unter dem Portico de la Gloria (Säulengang am Eingang der Kathedrale) zu legen, welche durch eine Vielzahl an Pilgerhänden geformt worden ist. Der wichtigste Schritt dieser Pilgerreise ist wohl das Ritual des Aufstieges. Angekommen in der Kathedrale steigen die Pilger hinter dem Altar zur Apostelstatue und umarmen sie. Danach werden sie durch die Krypta geleitet, in der die Gebeine des Apostels Jakobus aufbewahrt werden. Die unmittelbare Nähe zu den Reliquien ist dabei von besonderer Erfahrung für die Pilger.

Pilgern als religiöses Ritual in aller Welt

Das weltweite Netzwerk an Pilgerwegen zeigt, dass das Pilgern nicht nur ein Phänomen der Christenheit ist. Bereits die Römer und Griechen der Antike pilgerten zu heiligen Orten. Ein berühmtes Beispiel für ein Pilgerziel der Antike ist das Orakel von Delphi. Für die Menschen der Spätantike (griechisch-geprägtes Einflussgebiet) war Delphi der Mittelpunkt ihrer Welt. Nicht nur einfache Anhänger des Volkes, selbst Könige und Heerführer pilgerten zum Orakel und baten um Weissagung. Die Pythia (Priesterin) diente den Göttern als Gefäß und stellte den Fragenden den Rat der Götter in Aussicht.

Das religiöse Pilgern ist bei anderen Weltreligionen ebenfalls essenzieller Bestandteil und damit bei weitem kein Alleinstellungsmerkmal der Christenheit. Muslime pilgern zum Beispiel nach Mekka oder Medina und jüdisch Gläubige nach Jerusalem zur Klagemauer.

Hinduisten pilgern zu tirthas (heilige Orte – Tempel und Badeseen), was sich etwa mit ‚Furt‘ übersetzen lässt und in enger Verbindung mit dem Element Wasser steht. Eine Besonderheit im Hinduismus ist zudem das Kastensystem. Beruf und soziales Ansehen werden durch die Einstufung in eine Kaste bestimmt. Streng ausgelebt, haben Anhänger unterschiedlicher Kasten normalerweise keinen Kontakt zueinander. An den tirthas gelten diese Beschränkungen nicht. Frei und untereinander gemischt sind es fröhliche Orte. Spirituell gesehen sollen die heiligen Stellen Knotenpunkte zwischen verschiedenen Welten darstellen, an denen die Grenzlinie besonders durchlässig ist. Die göttliche Nähe ist somit sehr viel wahrscheinlicher.

Schon gewusst?

Auf dem Jakobsweg sieht man sie immer wieder aufblitzen – die Jakobs­muschel. Pilgersymbole sind aber nicht nur von ästhetischem oder religiösem Wert. Im Mittelalter waren sie essenzieller Teil einer jeden Pilgerreise und konnte über Leben und Tod entscheiden. Das Tragen der Zeichen stellte den Reisenden unter einen besonderen Schutz, denn es galt als Todsünde und schweres Verbrechen, einen Gläubigen auf seiner Pilgerfahrt zu überfallen oder gar umzubringen. Im Regelfall waren nur Anhänger des Klerus des Lesens und Schreibens kundig – so waren die Zeichen nötig, um den Reisenden in der breiten Öffentlichkeit als Pilger auszuweisen. Neben Muscheln sind Rosenkränze, Kreuze, Heiligenfiguren oder Pilgerstäbe als Pilgerzeichen bekannt.

Auf dem Weg zu mir selbst

All diese Beispiele zeigen, dass religiöse Motive von der Antike bis in die Gegenwart von zentraler Bedeutung waren, weshalb der Begriff des Pilgerns auch noch heute stark durch die Religion geprägt ist. Gerade in den letzten Jahren können aber auch andere Gründe ebenso ausschlaggebend sein. Als Auszeit, zur Rückbesinnung oder rein als Erlebnisreise: Immer mehr Menschen pilgern – zumindest im weiteren Sinne – und begeben sich auf die Reise. Und nicht immer sind es die religiösen Pilgerziele aus der Vergangenheit, sondern Orte oder Stellen, die einen persönlichen Wert haben. Steigere ich mein persönliches Glück durch das Pilgern zur Kathedrale in Santiago de Compostela oder mache ich mich einmal im Jahr gemeinsam mit vielen anderen tausend Gamern auf den Weg zur Gamescom in Köln. Jeder hat unterschiedliche, individuelle Motive, warum er pilgert, sei es nun das Bedürfnis Jesus, Allah oder etwa dem Sportclub seiner Wahl nahe zu sein.

Manchmal ist es aber gar nichts von all dem. Kein Glaubensort, kein Sportclub oder ein Erlebnis, was gesucht wird. Manchmal ist es einfach nur ein unbestimmtes Gefühl, eine innere Unruhe, die sich lange ausbreitet. Ebenso können stark belastende, emotionale Situationen, wie der Tod eines nahen Angehörigen, den Pilger auf seine Reise schicken. Und manchmal will man einfach nur neu starten – etwas anderes sehen, neue Stimmen hören oder im Grunde nur seinem unliebsamen Alltag entfliehen. 

Egal, warum Menschen zu Pilgern werden, mit jedem Schritt kommen sie ihrem Ziel wortwörtlich näher, wenn sie sich auf die Erfahrung einlassen.

Neben Harpe Kerkeling zieht es viele weitere prominente Gesichter auf die Pilgerwege der Welt. Zu ihnen gehören etwa der Bestsellerautor Paulo Coelho oder die Schauspielerin Shirley MacLane. Beide haben ihre Erlebnisse zu Papier gebracht und erzählen von ihren Erfahrungen am Wegesrand vom Jakobsweg. 

Und jeder Bericht ist anders. Jedes Buch über das Pilgern individuell. Und ist nicht genau das der Reiz der Wanderschaft? Stunde um Stunde, Schritt für Schritt mit sich selbst alleine zu sein, die Gedanken fliegen zu lassen oder Rückschau zu halten. Die Besinnung auf das eigene Ich steht im Vordergrund. Frei von jeglichen Ablenkungen, Verpflichtungen und Zwängen, gibt uns die Wanderschaft Zeit und sprichwörtlich ‚Luft‘ zum Durchatmen, zum Loslassen unserer Probleme, unserer Sorgen.

Eine Pilgergemeinschaft aus Gleichgesinnten

Aber dennoch ist man auch nie allein, wenn man Gesellschaft sucht. Ob man den Weg allein oder als Teil einer Gruppe beschreitet, auf seiner Wanderung trifft man immer auf Gleichgesinnte. Wenn nicht am Wegesrand, dann bei der Einkehr in den Herbergen. Spätestens beim Vergleich der Blessuren hat man einen Gesprächspartner gefunden, denn jeder hat sein eigenes Rezept gegen Blasen oder sucht Tipps für seine Weiterreise. 

Gleichzeitig ist es egal, wer man ist. Alter, sozialer Status oder Reichtum spielen hier keine Rolle. Alle Pilger sind gleich, alle erleben die gleichen Strapazen, jeder hat sein eigenes Päckchen zu tragen und doch herrscht innerhalb der bunten Gemeinschaft ein tiefes Verständnis. Also worauf warten wir eigentlich noch?

Noch Inspiration gesucht?

In „Raum in der Herberge“ aus dem Jahr 2004, erzählt die Autorin Elisabeth Klose von ihren Erfahrungen entlang des Jakobsweges. Das Besondere: Ihr Buch beschreibt das Pilgern nicht aus der Perspektive des Reisenden, sondern aus der des Freiwilligen in den Herbergen. Ehrlich und mit der gewissen Prise Humor beschreibt Klose auf 178 Seiten eindrücklich das Gefühl von Gemeinschaft und die Beziehungen, welche sich „am Wegesrand“ ergeben können. Eine ideale Vorbereitung für die großen und kleinen Herausforderungen während der Pilgerschaft.

Rebecca Mantell

Bilder mit freundlicher Genehmigung von © by-studio - stock.adobe.com, © Claudio- stock.adobe.com und © Sven Lägler - stock.adobe.com