Um welche Kraft geht es, die wir an bestimmten Orten in der Natur suchen? Was macht einen bestimmten Platz zu einer heiligen Stätte? Lange Traditionen, wie etwa die rituelle Nutzung der Externsteine im Teutoburger Wald zeigen, dass keltische Druiden und anschließend germanische Stämme viele Jahrhunderte vor der Geburt Jesu den Platz als heilig verehrten. Etwa zweitausend Jahre später, im Mittelalter, wurde der Ort von christlichen Mönchen als Kloster und Einweihungsstätte mystischer Rituale genutzt.

Doch was fasziniert die meisten Menschen an magischen oder mystischen Plätzen? Lange Jahre wusste ich nicht, warum ich regelmäßig bestimmte Orte in dieser Welt aufsuchte, von Lourdes in Frankreich über Stonehenge in England bis nach Boudhanath in Nepal. Millionen Menschen pilgern jährlich zu diesen und anderen Stätten und suchen dort Rat, Heilung, Erkenntnisse. Sie suchen Kontakt mit jenseitigen Kräften, denn sie wissen, dass sie ihre menschlichen Probleme nur mit Hilfe einer höheren Macht lösen können.

Die germanischen Schamanen suchten Kontakt zu ihren Ahnen und den Göttern der Ober- und Unterwelt. Auch christliche Pilger bitten in Lourdes um Unterstützung. Das Bild der Götter hat sich gewandelt von heidnisch zu christlich, doch der gemeinsame Nenner bleibt: die Hinwendung des Pilgers zu einer höheren Macht, ob unter einem Baum oder in einer Kathedrale. Ein Mensch, der sich an einer heiligen Stätte im Gras wälzt, ist vielleicht mitten in einem Ritual, in dem er sich mit Mutter Erde versöhnen oder verbinden will.

Höhere Mächte

Orte der Kraft, ob eine frisch sprudelnde Quelle in einem Buchenhain oder eine riesige Stupa mit dem Antlitz Buddhas, ob eine mächtige Steinformation mitten im platten Land oder der Petersdom in Rom, stets sucht der Pilger die Möglichkeit des Kontaktes zu höheren geistigen Mächten. Was geschieht mit uns, wenn wir in Kontakt kommen mit den Energien, die wir dort vermuten? Gibt es einen Kick? Ein Aha-Erlebnis? Eine Inspiration, etwa den richtigen Helfer in der Not aufzusuchen? Ja, an Kraftplätzen ist all das möglich. Selbst wenn ich als Reisebustourist stumpf und gelangweilt ein Programm abreiße, kann ich plötzlich staunen, weil, woher auch immer, so etwas wie Ehrfurcht entsteht.

Das Plappern mit dem Nachbarn hört plötzlich auf. Auch die anderen werden stiller, weil ein ungewöhnlich großer Greifvogel über den Externsteinen seine Runden kreist. Auch wenn der Adler von der nahegelegenen Adlerwarte stammt, ergreifend ist es, auch wenn man noch nicht deuten kann, was der Adler mit der gesuchten Erkenntnis oder Antwort zu tun haben könnte. Es ist wichtig, die Sprache der Natur nicht nur an ihren Kraftorten zu lernen und zu deuten. Wenn man die Zeichen auf dem Pilgerweg erkennen und lesen kann, stellt man plötzlich fest, dass die Natur spricht. Ein Adler wird zum Symbol geistiger Macht und ein Hase zum Symbol für schüchternes oder ängstliches Verhalten. Der Kontakt zur Natur und ihrer Sprache wird auf dem Weg des Pilgerns immer inniger. Die Romantiker und heute die Gilde der Tiefenpsychologen geben den klaren Hinweis: Zurück zur Natur!

Die eigene Natur erforschen

Nachdem auf der langen Pilgerschaft des Lebens die geistigen Fähigkeiten solide entwickelt worden sind und ein gutes Ego besteht, kann man sich als heldischer Pilger der eigenen Natur wieder stellen: den Emotionen, die man sich in Zeiten der kindlich wilden Natur verbieten musste. Die Natur, das sind die natürlichen Emotionen und Triebe im Menschen. Unter der überwältigenden Heftigkeit seiner Gefühle leidet der Mensch vor allem während der Kindheit und Jugend. Die Pferde gehen noch regelmäßig mit ihm durch, er hat sein Temperament nicht unter Kontrolle. Abstürze sind die Folge.

Die daraus resultierenden Leiden bringen die Leid-Tragenden auf den Pilgerpfad. Die erste Stufe dieses Weges ist die Erlösung aus der Sklaverei überwältigender Triebe, sie führt schließlich in die Freiheit des Geistes. Allerdings betrachtet dieser die Natur vorerst als Feind. Diese wiederum geht in den emotionalen Boykott. Das ist innerer Widerstand. Man mag ihn stoisch ertragen, doch hat man lange genug über den Wolken geschwebt, wird es im Himmel vielleicht zu langweilig und der trockene Denker sehnt sich zurück zu seiner Natur, zurück zu den saftigen, lebendig machenden Emotionen.

Auf dem Rückweg zur eigenen Natur kommt die Stufe zwei ins Spiel: Die Konfrontation mit allen kindlichen Gefühlen, die man so drauf hatte. Verborgene Gefühle wieder erwecken? Das kann sehr wohl ängstigen und nicht selten versiegt der Mut, denn auf dem Pilgerpfad werden wir mit unangenehmen und zuweilen peinlichen Gefühlen konfrontiert, unserem Schatten; mit unserer Eitelkeit beispielsweise, mit unserer Streitlust, unserem Neid oder unserer Missgunst. Neben der Wollust tauchen alle anderen Sünden und Begierden in unterschiedlichster Intensität wieder auf, doch es gibt einen großen Unterschied zur Kindheit, das sind die gesammelten Erfahrungen auf dem Pilgerpfad, denn dieser ist identisch mit dem Pfad der Erkenntnis. Die klassischen Pilger führt es schließlich zu sich selbst. Das ist wahre Selbsterkenntnis.

Bildquellen: Raphael Hilliger