Wir sind es gewohnt, immer in Eile zu sein. So vergessen wir gerne, uns zurückzulehnen und die Reise an sich zu genießen. Im Moment zu leben und das Hier und Jetzt zu spüren. Einfach mal den Gang rauszunehmen und das Tempo zu drosseln, hilft und tut uns gut. 

Ich mache einen Spaziergang durch den Park. Durchs Fenster hatte ich gesehen, dass es geschneit hat. Seit mehreren Tagen habe ich mich nun schon in meinem Zimmer verkrümelt, mit der Begründung, dass es gerade sowieso keinen Sinn macht, rauszugehen. Es sei viel zu kalt und ungemütlich. was soll man da schon groß erleben. Als ich allerdings die weißen Flocken gesehen habe, gab ich mir einen Ruck. Und hier bin ich. Auf meinem Weg, nicht im übertragenen Sinne, sondern einem echten Weg aus Fußspuren im Pulverschnee und etwas Gras, was darunter hindurch blitzt. Bei Spaziergängen setze ich mir gerne Kopfhörer auf und checke in meiner Schritt-App auf dem Handy, wie viele mir noch bis zu meinem täglichen Schrittziel von 10 000 fehlen. Spazieren ist also für mich Mittel zum Zweck, mich etwas zu bewegen und vielleicht die Nachrichten zu hören, mit einer Freundin zu telefonieren oder in das neue Album meiner Lieblingssängerin reinzuhören. Me-Time sozusagen. Und außerdem gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. 

Den Moment mit allen Sinnen erleben

Heute ist es allerdings anders. Während ich durch den verschneiten Park stapfe nehme ich alles um mich rum wahr, und mir bleibt auch nichts anderes übrig, denn: Der Akku meiner Kopfhörer ist leer. Was mir am Anfang noch gründlich die Laune zu verderben drohte, war am Ende ziemlich gut. Ganz entgegen meiner Gewohnheit hebe ich den Blick vom Weg, schaue mich aufmerksam um, rieche den frischen Schnee, fühle ihn sogar, als ich einen kleinen Schneeball forme und höre, was um mich herum geredet wird. Zwei Kinder bauen eine kleine Schneemannfamilie auf eine Bank. Sie unterhalten sich. „Na toll, wer soll denn da jetzt noch sitzen??“ „Niemand, es ist so gemein, dass Schneemenschen immer auf dem Boden sitzen müssen, die sollten auch einen Platz haben.“ Ich grinse in mich rein und gehe weiter. Zu meiner Verwunderung ist mir alles andere als langweilig ohne Hintergrundbeschallung. Ich sehe einen Buntspecht, dessen Klopfen am Baum ich mit meiner Musik auf den Ohren im Leben nicht gehört hätte. Wann habe ich das letzte Mal einen Buntspecht gesehen, frage ich mich. Auf dem Weg nach Hause nehme ich mir vor, mir öfter zu erlauben, alle meine Sinne zu benutzen um den Moment etwas mehr mitzubekommen. 

Multitasking einmal abgeschaltet

War das jetzt schon das Glück am Wegesrand? Ich glaube schon. Darum geht es doch nämlich im Endeffekt. Das Schöne in den kleinen Dingen sehen und Momente, so wie sie kommen und gehen in vollen Zügen zu genießen. Oder noch besser IM Moment zu leben und nicht immer in dem davor oder schon im nächsten. Wir neigen dazu, immer mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Das nennen wir dann Multitasking. Es hilft uns in der schnelllebigen Welt unser Arbeitspensum zu erfüllen. Oft fühlt es sich an, als hätte der Tag nicht genügend Stunden, sodass wir Tätigkeiten miteinander kombinieren, um hinterherzukommen. So sehen wir beim Essen fern, checken beim Kaffeetrinken die Mails am Computer, Telefonieren beim Spazierengehen (ich), schreiben WhatsApp-Nachrichten in der Badewanne und, und, und. Die Liste ist lang. Das Handy legen wir sowieso nie aus der Hand und es hindert uns oft daran, mal den Blick zu heben (siehe auch ich auf dem Spaziergang) und unsere Umwelt richtig wahrzunehmen.

Der Augenblick ist jenes Zweideutige, darin Zeit und Ewigkeit einander berühren.

Søren Kierkegaard

Was dadurch entsteht, sind völlig zu einer grauen Masse verschwommene Wochen. Aus ihnen fällt es oft schwer, einzelne Tage herauszupicken und sich zu erinnern, was man gemacht hat. Oft fragt man sich dann, was man denn eigentlich Freitagabend gemacht hat oder was es letztens zum Mittagessen gab. Als mich letztens meine Mutter angerufen hat, um zu fragen was ich die letzte Zeit so gemacht habe, habe ich bestimmt eine Minute lang rumgedruckst, weil mir beim besten Willen nicht eingefallen ist, womit ich denn die Tage verbracht habe. Momente, in denen wir mit allen Sinnen da sind, stechen heraus und sind auch in unserer Erinnerung präsent.

Noch viel schlimmer ist übrigens meine Angewohnheit, in Gesprächen mit Leuten aus Reflex das Handy herauszuholen und auf den Bildschirm zu schauen, Nachrichten abzurufen. Das resultiert dann oft darin, dass ich frage: „Was, warte mal, kannst du das nochmal sagen?“ Das ist schön für keinen, weder für mich noch meinen Mitbewohner, der sich mit mir oft schon den Mund fusselig geredet hat. Natürlich ist es gerade schwer, sich solche Momente zu schaffen. Man ist viel zu Hause und durch Home Office oder ähnliches verschwimmt der Beruf mit der Freizeit und lässt sich nur noch schwer voneinander trennen. Allerdings ist es so auch gerade umso einfacher, zu trainieren, völlig im Moment zu leben. Wenn das Leben dann wieder normal weitergeht, ist man schon ein Profi darin und kann auf seinem Weg die schönsten Erinnerungen mitnehmen. Vielleicht.

Multitasking – Was steckt dahinter?

Uns nur mit der Realität des Moments auseinanderzusetzen, gibt uns das Gefühl, die Zeit nicht effektiv zu nutzen. Fast fühlt es sich an wie eine Ressourcenverschwendung, die Stunde Mittagessen kochen und essen nicht mit etwas zu füllen, was uns in jedem Fall entweder Spaß bringt oder einen Punkt auf unserer To-Do Liste abhakt. So wollen wir oft Dinge gleichzeitig tun. Unser Gehirn ist nicht darauf ausgerichtet, auf zwei Kanälen gleichzeitig zu arbeiten, einer der zwei oder drei Sinne, die beansprucht werden, wird in jedem Fall zu kurz kommen. 
Wenn wir zwei Aufgaben haben, ist es umso leichter für uns, sie gleichzeitig zu erfüllen, je weiter voneinander entfernt die beanspruchten Hirnareale sind. Telefonieren und gleichzeitig die Umgebung beobachten geht also meist klar, wohingegen sich eine WhatsApp-Nachricht schreiben während des Telefonierens schon etwas schwieriger gestaltet. 

Die Gedanken einfach auf sich zukommen lassen 

Wenn das Kombinieren mehrerer Tätigkeiten nicht daran liegt, die Effizienz zu steigern, dann auch oft darin, dass wir froh sind, mal nicht unseren eigenen Gedanken zuhören zu müssen, sondern stattdessen einfach andere reden zu lassen. Die klassische Hintergrundbeschallung hält uns allerdings davon ab, sich mal genau mit dem auseinanderzusetzen, was einem in diesem Moment in den Kopf schießt. Es ist unglaublich interessant, dabei zuzusehen, was das Gehirn so für Verrenkungen veranstaltet, wenn man es einfach mal machen lässt.

Statt also Gedanken von sich zu schieben, sollte man sie einfach kommen lassen. Am Anfang wird es vieles sein, was schon passiert ist oder aber Gedanken darüber, was in der nächsten Zeit noch so ansteht. Irgendwann ist aber auch mal „zu Ende gedacht“ und durch den neu geschaffenen Platz hat man die Möglichkeit, sich genau auf den Moment zu konzentrieren, in dem man sich gerade befindet. Als Kind konnte ich das eigentlich noch ziemlich gut. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich in dem Video auf dem alten Camcorder von meiner Mutter nur mit der großen Kuschelraupe spiele und nicht mehr. Und ich wäre wohl kaum auf die Idee gekommen, nebenbei meinen Babybrei zu essen. Nun hat das vielleicht auch mit den Fähigkeiten von Kindern in einem bestimmten Alter zu tun. Fakt ist aber trotzdem: Kinder leben im Moment, denn worüber sollten sie sich auch groß Gedanken machen?

Monde und Jahre vergehen, aber ein schöner Moment leuchtet das Leben hindurch.

Søren Kierkegaard

Wir heute hingegen haben immer etwas, worüber wir uns Gedanken machen können. Sei es die Urlaubsplanung für nächsten Sommer, der Streit mit der Freundin vor ein paar Tagen oder der Klimawandel. Hinzu kommt die Abgabe für den Chef nächste Woche. So schön es wäre, wir können nicht einfach so sorglos durch die Weltgeschichte laufen und uns immer nur auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Trotzdem finden wir das Glück am Wegesrand nur, wenn wir uns eben diese Fähigkeit aus der Kindheit erhalten und sie auch immer mal wieder einsetzen. Warum denn schönen Momenten das Potenzial nehmen, indem man schon wieder mit den Gedanken in der Vergangenheit oder Zukunft steckt?

Die Kunst unseres heutigen Lebens besteht wahrscheinlich einfach darin, eine gesunde Mischung zu finden, in der wir sowohl organisiert unseren Alltag meistern und gleichzeitig aber auch wissen, wie man anhält und ein Kleeblatt am Wegesrand findet (im ganz, ganz übertragenen Sinne). Ach so, und noch was: Das muss auch nicht von heute auf morgen klappen. Niemand wird innerhalb von kürzester Zeit zu einem achtsamen, im Moment lebenden Dalai Lama, für den nur das Hier und Jetzt zählt. Wer es aber immer öfter probiert, wird Gefallen darin finden und das An-und Innehalten auf seinem Weg für sich entdecken. 

Gedanken sind wie Wellen 

Unser Kopf ist wie ein riesengroßer Ozean, in dem immer wieder neue Gedanken angeschwemmt werden, wie Wellen um Wellen. Diese sind nicht aufzuhalten. Wenn man sich ihnen entgegenstellt, kann es wehtun. Wenn man sie allerdings einfach kommen lässt, sind sie weich und angenehm und rollen früher oder später an einem vorbei. Wer also das Gefühl hat, im Strom seiner Gedanken nicht mehr durchzublicken, stellt sich einen ruhiges, glattes Meer vor. Die Wellen sind klein, haben keine Schaumkronen und dümpeln an einem vorbei. Man selbst steht im Wasser und schaut dabei zu. Mehr muss man nicht tun. Irgendwann spürt man sie kaum noch und hat den Blick frei für die Gegenwart. 
Tipp für komplettes Hier und Jetzt: Beim Händewaschen mal ganz bewusst darauf achten, wie sich die Seife auf der Haut anfühlt und wie sie riecht. Während im Kopf vielleicht wieder Gedankenwellen kommen, sind wir ganz bei unseren Händen. 

Einfach mal aufhören, zu planen

Der erste Monat des neuen Jahres ist schon wieder rum und ich bin mir sicher, dass fast alle auch wieder beim „Planen“ sind. Nennen wir unsere Pläne und ToDo-Listen doch lieber Träume, Ideen oder Wünsche. Das klingt direkt ganz anders oder? Im Leben ist es wichtig, Vorstellungen zu haben, auf die man gerne hinarbeitet. Das einzig wichtige ist es, an dem Weg dorthin selbst schon Spaß zu haben. 

Bei meinem Plan, diesen Artikel zu schreiben habe ich auch kurz mal auf dem Weg angehalten. Eigentlich wollte ich von meinem Mitbewohner nur kurz wissen, was er so zu dem Thema denkt, allerdings wurde daraus ein Vier-Stunden Gespräch über Gott und die Welt. Ist das Glück am Wegesrand? Ich glaube schon.

Das Yogi-Glück am Wegesrand 

Wer selbst schon mal Yoga gemacht hat, wird es vielleicht kennen. Das Nachspüren. Es ist eins der wichtigsten Dinge in einer entspannenden Yogapraxis. Nachdem man mehrere Atemzüge oder sogar einige Minuten in einer bestimmten Position verharrt hat, kommt man zurück in einen angenehmen Sitz (Fersen-oder Yogisitz) und konzentriert sich auf die Teile des Körpers die soeben am meisten beansprucht worden sind. Das ist eine Form der Achtsamkeit und lässt uns lernen, uns im Moment auf genau das zu konzentrieren, was wir spüren. 

Annika Franz

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