Nichts ist für mich so relativ wie Zeit. Anhaltend stelle ich fest, wie oft sie mir zwischen den Fingern zu zerrinnen scheint. Dennoch formt sich ein neues Zeitbewusstsein in mir, welches mein Leben immer entscheidender prägt. Die Tücken der Zeit lassen sich aufdecken. Wieder neigt sich ein Jahr dem Ende zu und gefühlt ist so vieles offen geblieben – hatte es nicht gerade erst begonnen? 

Doch die Retrospektive legt ihren Finger nicht nur auf die Stellen, die im Rausch der Zeit offengeblieben sind, zugleich gibt es Begebenheiten, die auf der gleichen Zeitschiene schon ewig weit zurückzuliegen scheinen. „War das erst dieses Jahr?“ Damit meine ich nicht nur das Kalenderjahr, es sind auch die Lebensjahre, die Erlebnisse, die sich kaum linear und chronologisch in meinem Inneren abgespeichert haben. Würde ich sie mit Steinen vergleichen, so glitzern manche lebendig und nah, als hätte ich sie erst gestern eingesammelt. Andere hingegen sind in den Boden abgesunken oder liegen als Felsbrocken oder Meilensteine hinter mir, worüber ich auch froh bin. Bei manchem aktuellem Stolperstein frage ich mich, warum er immer noch auf meinem Weg liegt, wo ich ihn schon so weit wegsortiert hatte.

Oft fühle ich mich dem Lauf der Zeit ohnmächtig ausgeliefert, andererseits, wenn ich mich mit wohlwollenden Augen im Spiegel betrachte, bedanke ich mich leider etwas zu selten dafür, dass der Zahn der Zeit bislang sehr milde an mir genagt hat. Und da ist etwas Zeitloses in meinem Sein, in mir, etwas, was völlig frei vom Diktat der Stundenuhr ist.

Brücken zur Vergangenheit schlagen

Jahre gehen vorüber, Monate, die durch Planungen und Vorkommnissen, Urlaube, Geburtstage, dem Kennenlernen von wichtigen Menschen oder auch dem Verlust derselben, neue Entwicklungsstufen, gesundheitliche Veränderungen, durch Umzüge oder auch nur durch religiös definierte Feiertage strukturiert werden. Zugleich erhalten diese Ereignisse ihre emotionale Färbung, vielleicht möchten wir das eine oder andere am liebsten ungeschehen machen oder so manche Augenblicke für ewig ausdehnen wollen. Das Erlebte rückt immer wieder aus der Vergangenheit in die Gegenwart auf, es scheint ungebunden an unsere Definition der Zeitphasen, wie ein Paralleluniversum präsentiert es uns bestimmte Ereignisse über die Brücke unserer emotionalen Bindung.

Wenn wir darin eintauchen, empfinden wir das, was einst passierte, „wie damals“, in unserem Inneren ist keine Zeit vergangen. Für mich ist es anhaltend wie eine bewusste Begegnung mit mir selbst, wer ich damals war und wie ich mich durch die Ereignisse weiterentwickelt habe. Ich lerne mich durch solche Zeitreisen jedes Mal ein bisschen anders kennen – das mag wohl an dem Abstand liegen mit dem ich auf das Erlebte blicke, obwohl ich in besonderer Weise mit den Gefühlen von damals verbunden geblieben bin.

Das eigenes Zeitgefühl stärken

Es mag etwas arrogant anmuten, aber sich weniger mit anderen zu vergleichen oder sich durch Trends leiten zu lassen, macht das Selbstbewusstsein in das eigene Zeitgefühl aus. Wenn wir der Alterszahl nicht selbst eine Bedeutung geben, die von der Allgemeinheit oder unseren Eltern übernommen ist, dann sollten wir unser Alter als das erleben, was es maßgeblich aus unserem Gefühl heraus ist.

Nutzen wir unsere Lebensreife als wichtiges Barometer dafür, welche Wohlfühlprioritäten wir setzen. Halten wir uns nicht mit der ängstlichen Betrachtung unserer Endlichkeit auf und damit, dies krampfhaft abzuwenden. Der Wert der Zeit liegt in ihrem Reichtum, den Augenblick vollends auszukosten oder sich spontan über eingefleischte Gewohnheiten zu erheben.

Den persönlichen Lebensimpulsen zu folgen, dem guten Gefühl, mag es anderen noch so verrückt oder nicht altersgemäß vorkommen, berührt jene Zeitlosigkeit, die mit uns ist. Jene Zeitlosigkeit, die uns leichtfüßig ins Alter begleitet und durch so manche Falte hindurchlacht.

Die Tücken der Zeit

Vielleicht ist es eine Art Reifeprozess: Wie ein Apfel, der, ob als Kern, als Blüte, als unreife oder essbare Frucht, in seiner Essenz immer ein Apfel bleibt, so bin auch ich als menschliches Wesen immer mit meinem Kern verbunden, gleich in welchem äußeren Reifestadium ich mich momentan gerade befinde. Dieser Kern hat etwas Zeitloses an sich, gleichwohl nehmen bestimmte Schwellen menschlicher Entwicklungsstufen ziemlichen Einfluss auf Künftiges. 

Während ich als Abiturientin oftmals als Studentin durchgegangen bin, älter wirkte, mich sprachgewandt und selbstbewusst zeigte, hielt die Lebensuhr irgendwann an und ließ mich jünger erscheinen. Mein Wissen, die Eloquenz, die geistige Reife eilten meinen physischen Lebensjahren weiterhin voraus, während mein Körper seine Jugendlichkeit behielt. Ich komme nicht umhin zu sagen, dass ich die Vorteile durchaus genoss, sie allerdings nicht immer zu schätzen wusste. Dann rückte eine Schwelle auf mich zu, die besonders für uns Frauen eine bedeutsame ist: die biologische Uhr.

Ich war durch meine Dreißiger diesbezüglich recht beschwingt und ohne Druck gewandert, doch mit der bevorstehenden Vierzig setzte, wie mit einem Gongschlag, das Bewusstsein darüber ein, dass nicht alles zeitlos und nach vorne unbegrenzt ist, auch wenn ich mich mit meinem Körper anhaltend jung und frisch fühlte.

Befreiung von den Fesseln der Zeit

Ich befand mich seit Ende Dreißig bereits in einer Bindung und schnell kam es zu Ereignissen, die auf natürliche Weise das Thema der weiblichen Zeitgebundenheit in den Gesprächsfokus rückten. Es war zum ersten Mal eine Art Wurmloch für meine Lebensausrichtung, ein Nadelöhr für Entscheidungen, die nicht wieder rückgängig zu machen wären. Neben den Ungereimtheiten in der Paarbeziehung diesbezüglich, traf ich für mich selbst eine Entscheidung – nämlich die, meinen Körper, mein Herz und meinen Verstand zu fragen, wofür die Zeit reif ist.

Ich hörte mich als inzwischen Vierzigjährige gegenüber Frauenärzten sagen, dass ich mich noch immer wie eine Anfang Dreißigjährige fühle und sie mir bitte keine Vorträge über eine späte Schwangerschaft halten mögen. Ich fühlte mich rundum sattelfest in meiner physischen Frische, die die Ärzte ihrerseits nur bestätigen konnten. Das Alter, die Zahl, die sich laut meines Geburtsdatums errechnen lässt, wurde damit zu etwas Zweitrangigem, nahezu Künstlichem. Mein Herz riet mir, mich dem Leben anzuvertrauen, wenn es denn für mich eine Mutterschaft vorsähe. Mein Kopf schaute auf all dies, wackelte etwas ungläubig und hielt die Umstände nicht für optimal, wollte dem Gang der Dinge dennoch folgen.

Zeit

Das Monster
Zeit
dirigiert
meinen Tag
Alltägliches
wird
zum Marathon
der Höchstgeschwindigkeiten
Als Schatten
eilt
sie mir voraus
nie
hole ich sie ein

Erst
wenn der Tag
sich neigt
und
das Licht
der Dunkelheit
weicht
dann
entschwindet auch
der Schatten
zerfließt
das Monster
Zeit

Ich schaue
zu den Sternen
Zeitfunken
der Unendlichkeit
so weit
seid ihr
von mir entfernt

Werde ich
jemals auf euch stehen
und
fühlen
wie es ist
die Zeit
in meinen Händen
zu tragen
Die Kostbarkeit
des Augenblicks
zu sehen
statt
mit erstarrtem Blick
zu warten
bis
der Sonne warme Strahlen
sich am Horizont
erheben

Tauche
ich ein
ins Licht
meines Herzens
dann
verliere ich
nichts
Auch
keine Zeit
denn 
ich bin
hier
ein Teil von ihr

C. v. Knobelsdorff, 2001

Die Zeit fließen lassen

Ich hatte diesem Thema in meinem Leben wirklich die lange Leine gelassen und suchte ich mir schlussletztlich den anspruchsvollsten Zeitpunkt dafür heraus. Nicht unbedingt körperlich, denn ich hatte wirklich eine Traumschwangerschaft, sondern emotional, weil ich sie leider mehr für mich alleine genossen habe. Im Wissen, dass es vermutlich keine weitere Chance darauf geben würde, oder dass ein weiteres Kind in dieser Konstellation kaum ratsam gewesen wäre, wurde jeder Tag zu einem besonderen.

Neun Monate, ein Zeitrahmen voller Entdeckungen, der zumindest mir niemals unerträglich eng wurde. Viel zu schnell vergingen die Tage, viel zu wenig habe ich innegehalten und in mich gelauscht, wie neues Leben in mir heranwächst – das habe ich bereits damals schon so empfunden. Jedes Kleidungsstück, was ich später weggab, weil es zu klein geworden war, sensibilisierte mich auf eine völlig unbekannte Weise für die Vergänglichkeit. „Habe ich diese Zeit wirklich richtig genossen, alles ausgekostet, sodass ich nicht bereuen muss, etwas versäumt oder zu wenig gelebt zu haben?“

Ich kann es nicht sagen. Der Sturm, der kurz nach der Geburt über mich und das kleine Wesen losbracht, schob existenzielle Themen derart drastisch in meine Lebenszeit, dass ich gleich einer Nähmaschine immer schneller zu schnurren anfing, um Herrin über alle Aufgaben zu bleiben. 

Auf das Geschehene zurückblicken

Heute, weitere fünf Jahre später, kann ich nur sagen, ich habe stets mein Bestes gegeben, in allem sorgenreichen Gerattere auch Auszeiten für das Eintauchen in den Kosmos der Zeitlosigkeit zu bewahren. Ich bin gespannt, was irgendwann mein Sohn von der gefühlten Zeit berichtet, davon, welche Ereignisse in ihm aus diesen Jahren zeitlos lebendig geblieben ist. Bei mir ist es oft genug der Zweifel, wie es mir statt dem Traktat der Zeit und Erledigungen hätte besser gelingen können, mit ihm mehr die Momente zu leben, gerade weil sie so unwiederbringlich sind.

Inzwischen habe ich bereits die Schwelle der Fünfzig genommen und gebe zu, mit Humor lässt sich einiges leichter nehmen, wo der Selbstwert inzwischen ins Wanken kommt. Der Reifeprozess hat innerlich viele Früchte getragen, vieles von den Herausforderungen, die meine letzten Jahre geformt haben, hätte ich mit Mitte Dreißig kaum zu bewältigen gewusst. Ich fühle mich also einerseits mit allen Lebensentscheidungen stimmig mit auf meinem Zeitstrahl, andererseits frage ich mich, ob die aktuelle innere Müdigkeit meine durchaus noch vorhandene körperliche Jugendlichkeit unwiederbringlich verblassen lässt. Da packt mich der Stolz und Ehrgeiz, denn obgleich ich meine innere Reife immer mehr zu schätzen weiß, möchte ich doch keine alte Mutter für meinen Sohn sein. Eine augenscheinlich alte Mutter, hinter deren Rücken sich jüngere Mütter Geschichten zum Warum und Wie ausdenken.

Zeitbrücken bereinigen

Oft stellen wir rückblickend etwas in unserem Verhalten, bei unseren Entscheidungen in Frage, auch wenn grundsätzlich alles gut gegangen ist. Das, was uns keine Ruhe gewährt, lässt uns gewissermaßen von innen her welken. Mit sich ins Reine zu kommen ist daher ein weiterer Tipp, um in der zweiten Lebenshälfte noch genügend Schwung für die übrig gebliebenen Verrücktheiten zu haben. 

Mit Hilfe des Abstands zu Personen und Ereignissen und mit der Souveränität der gemachten Lebenserfahrungen sollte es möglich sein, beispielsweise ein klärendes Gespräch zu führen. Hierfür empfehle ich zweierlei: Stellen Sie ausreichend Fragen, warten Sie die Antworten ab und lassen Sie sie wirken. Dann beschreiben Sie Ihre Sicht der Dinge, Ihre Empfindungen und vielleicht auch, wie Sie es nach Jahren Ihrer Weiterentwicklung anders hätten machen wollen. Ob es einen Konsens gibt, ist zweitrangig. Die Wiederbegegnung mit etwas Ungelöstem ist Teil der Bereinigung selbst.

Indem Sie sich auf diese Weise annehmen, lernen Sie sich selbst zugleich nochmals kennen, versöhnlich und verständnisvoll für Ihr damaliges Handeln und den Umgang des Anderen damit. 

Sie bereinigen eine belastende zeitliche Brücke in die Vergangenheit, machen Sie wieder frei für willkommene Erinnerungen.

Ist das Zeitgefühl durcheinander geraten?

Die Schwelle zur Fünfzig überschritt ich in der Tat nicht mehr ganz so leichtfüßig, das mag allerdings auch den gesamten Umständen geschuldet sein. Mein Leben hatte sich gerade von vielem frei gemacht, da kam der große gesellschaftliche Umbruch. Und eines ist ja klar, Stress und Sorgen lassen einen schneller altern. Und mit dem Altern kommen dann alle inneren Schwachpunkte zu Tage, sensible Stellen, die die Relativität von Zeit erneut durchwürfeln und jene Gelassenheit damit auf den Prüfstand stellen.

Wenn ich mich im Spiegel betrachte, mit dem hochgebundenen Pferdeschwanz, wie vor 20 Jahren, den engen Jeans, einem Sweatshirt und Sneakers, dann realisiere ich kaum jene Zahl, die bei Altersabfragen im Formular steht und mich selbst jedes Mal ungläubig stutzen lässt. Da liegen gefühlt Welten dazwischen, dennoch gibt es den kleinen Nager in mir drinnen, der meine Entkopplung vom konventionell definierten Alter, kritisiert. „Kleide ich mich wirklich zeitgemäß, also altersgemäß? Gibt es einen deutlichen Widerspruch in meinem Äußeren und zwischen meiner Hülle und der Art meines Verhaltens? Falle ich irgendwie auseinander, weil ich mich zeitlich nicht einordnen kann, weil ich dem Alter auszuweichen versuche?“

Ich glaube, darauf gibt es keine allgemeingültigen Antworten. Mehr denn je schließe ich mich den Aussagen anderer Menschen an, die von sich sagen: „Man ist so alt, wie man sich fühlt.“ Bis ich als reife Mama in den Fünfzigern bei diesem neuen Zeitgefühl ohne inneres Raunen vollständig angekommen bin, klopfe ich mir verständnisvoll auf die eigene Schulter: „Alles hat seine Zeit.“

Céline von Knobelsdorff

Website: http://celine-von-knobelsdorff.com

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