Warum sollte man einsam sein wollen? Hervé Magnin hat sich für ein paar Tage in die Einsamkeit zurück gezogen, um über sie zu philosophieren. Herausgekommen ist ein inspirierendes Büchlein, das wir hier in Auszügen vorstellen.

Tag 2

Donnerstag, 20. Mai, Champagny-en-Vanoise, es ist halb elf Uhr vormittags und ich habe keine Angst. Die Nacht war gut. Ich täusche mich nicht darüber hinweg, dass ich auf Ihre Gesellschaft oder sogar Ihre Zustimmung aus bin. Ihre Anwesenheit ist zwar virtuell, doch deswegen sind Sie nicht weniger präsent in meinen Gedanken, wenn ich (allein?) schreibe. Gustavo Adolfo Bécquer, ein spanischer Dichter, stellte etwas boshaft fest: „Die Einsamkeit ist sehr schön … wenn man jemanden in der Nähe hat, dem man das sagen kann.“

Vielleicht ist die Einsamkeit relativ genug, um nicht im Absoluten zu existieren. Da sie etwas Bedingtes ist, beharre ich darauf, mich von dem, was mich ablenkt, zu lösen. Alle Angst ist verschwunden. Ich gehe meines Weges, ohne dass mir spürbar etwas fehlt, ohne Frustration. In diesen Momenten der Gnade bin ich überall zu Hause, bei mir, in mir, in der Einsamkeit. Ich wohne darin, tue meinem Inneren etwas Gutes.

Oft und lange habe ich einsame friedliche Ruhe genossen. Ab und zu habe ich auch den Schlüssel dazu verloren. Ich kenne die Leichtigkeit der Einsamkeit beinahe genauso gut wie die Last der Isolation. Die positive Einsamkeit ist ein Hengst, den man kaum als Anfänger reiten kann, sondern nur mit entsprechender Erfahrung und Sicherheit. Ein guter Sitz erfordert Achtsamkeit, sogar große  Geistesgegenwart, vor allem dann, wenn man das Reiten erst erlernt.

Tag 3

Freitag, 21. Mai, Champagny-en-Vanoise, es ist halb zehn Uhr morgens und mein dritter Tag in Einsamkeit. Ich bin ruhig und zuversichtlich. Fehlt es mir an etwas? Ein Moment der Stille und des In-mich-Hinein-hörens zeigt mir an, dass ich einen gewissen Mangel verspüre. Die physische und psychische Distanz zur Außenwelt, die ich an diesem Ort gewonnen habe, bringt mich unweigerlich mir selbst näher. Ich liebe dieses Gefühl, diese ursprüngliche Vertrautheit. Trotzdem fühle ich mich nicht vollständig, nicht wunschlos glücklich, aber doch friedvoll. Vor mir liegt ein weiteres Erkunden und Verwandeln meiner Seele, dessen Freuden ich zwar erahne, aber noch nicht kenne.

Etwas zu erschaffen ist eine eigenständige Quelle der Bereicherung. Ich gebe mich und ich empfange etwas. Nicht selten habe ich aus diesem Grund schon das Bedürfnis, meine Einsamkeit zu verteidigen. Dieser Tage ist es so: Je mehr ich mich in mich selbst und in das Schreiben vertiefe, umso weniger will ich aus dieser Tiefe hinausgehen. Leider habe ich nicht genügend Lebensmittel eingekauft und werde ein paar Besorgungen machen müssen. Diese Aufgabe macht mir zu schaffen, denn eigentlich will ich meine Höhle nicht verlassen. Nicht wegen des Komforts, den mir diese anheimelnde Wohnung bietet, sondern wegen der Konzentration ganz auf mich selbst, die ich genieße und die mich nährt. „Verlass mich nicht, verlass mich nicht, verlass mich nicht, verlass mich nicht“, fleht Jacques Brel. Er wandte sich damit an eine Frau. Warum diese Bitte nicht an die Einsamkeit richten? Verlass mich nicht! Ich fühle mich allmählich gut mit dir. Steht es überhaupt in deiner Macht, mich zu verlassen? Nein. Das hängt allein von mir ab. Ich habe die Macht, dich zu verlassen. Aber warum sollte ich sie heute einsetzen? Es geht mir so gut mit dir.

Einsam kreativ sein

Wie steht es mit unserer Kreativität, solange wir die Einsamkeit fliehen? Ohne Verbindung mit uns selbst können wir nur das reproduzieren, was andere schon vor uns geschaffen haben. Aber das hat mit echter Kreativität nichts zu tun. Was ist denn Kunst, wenn sie nichts Neues an sich hat? Bestenfalls etwas Bekanntes, mitunter subjektiv Schönes. Doch nur in unserem innersten Sein, in den Tiefen der Seele kann sich Originalität herausbilden.

Abstand zwischen uns und die Welt bringen bedeutet, dass wir auch Distanz gewinnen zu den uns prägenden soziokulturellen Einflüssen, uns ein Stück weit lösen von unseren Konditionierungen.  … In der Einsamkeit offenbart  sich die Einzigartigkeit  des Seins. Es ist daher nicht verwunderlich, dass große Einzelgänger zumeist auch große Schöpfer sind und umgekehrt. Doch ihre Einsamkeit gilt vielen als suspekt und ihre Originalität als beunruhigend. Oft ihrer Zeit voraus, wirken sie durch ihre erneuernde Kraft mitunter verstörend. Einsamkeit und Isolation sind eng miteinander verbunden. Es steht in unserer Macht, die Wippe geistig in die eine oder andere Richtung zu bewegen. Die eine ist belebend, die andere unheilvoll.

Positive-Einsamkeit

Der Autor

Hervé Magnin ist Therapeut für kognitive und Verhaltenspsychologie, aber auch Leiter einer Consultingfirma, Komponist und Sänger und last but not least Autor zahlreicher Artikel und Bücher. Mit „Positive Einsamkeit“ liefert er ein lesenswertes Essay zur Einsamkeit, zur Liebe und Selbstliebe und zur Freiheit ab, das die Reihe „Achtsam leben“ des Scorpio Verlages zweifellos bereichert.

Bilder mit freundlicher Genehmigung von © Ronny Labotzke und © Scorpio Verlag