Unheilbar, hieß mein Urteil. Ich habe es geglaubt, ohne in mich zu gehen, ohne nachzufragen, ohne dieses Urteil für mein Leben nur ansatzweise in Frage zu stellen.

Aber wer sagt, dass das die Wahrheit ist? Jahrelang bin ich dieser Wahrheit gefolgt, habe angenommen, vermutet, geglaubt, war bereit mich in mein Schicksal zu fügen und letztlich unterzugehen. Ich habe meine Eigenverantwortung abgegeben, mich abhängig gemacht von einem Urteil, das wie ein Damoklesschwert über mir ragte.  Wir alle werden mit vermeintlichen Wahrheiten konfrontiert, die uns auferlegt werden. Wir machen uns Tag für Tag abhängig von den Urteilen anderer. Anstatt in uns hineinzuhören, folgen wir dem, was andere uns vorgeben. Wir haben verlernt, die eigene innere Stimme wahrzunehmen. Die Verantwortung für unser Leben übernehmen Fremde.

Leben. Mit einer Krankheit

Braucht es wirklich Übungen, die in einem Seminar erlernt werden, um achtsam zu werden und den Zugang zu sich selbst zu finden? Ich bleibe beim Nein.

Ich habe für mich begriffen, dass jede Krankheit ihre Sprache hat, dass jedes Symptom eine Aussage mit sich bringt. Ich habe verstanden, dass meine Krankheit mir etwas sagen möchte und dass Änderungen nur durch Änderungen möglich sind. So lange ich meine Krankheit als Feind begriffen habe, konnte sie mich nicht loslassen. Erst nachdem ich sie als mahnenden Freund erkannte, wurden meine körperlichen Zustände deutlich besser.  Zwei sehr bekannte Größen aus dem Kulturbereich sind an Krebs gestorben. Als ich ihre Biografien las, die sie zu Lebzeiten geschrieben hatten, fiel mir die Erkenntnis geradezu aus dem Gesicht. Beide hatten gegen ihre Krankheit gekämpft und verloren. Auch ich kämpfte mit aller Kraft gegen das an, was mein Körper mir an Schmerz und Verzweiflung zumutete. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen, war voller Wut und Hass und wollte nur eins: dass es endlich aufhörte.

Aber diese Biografien hatten mir die Augen geöffnet. Und plötzlich war ich bereit meine Symptome zu sehen, ihre Botschaft aufzunehmen. Ich war bereit, auf die Signale meines Körpers zu hören, mir mit Achtsamkeit zu begegnen.

Lähmung? Taubheit? Vernebelte Gedanken? Depression? Das waren nur einige der Symptome, die ich hatte, aber sie waren wesentlich in ihrer Aussage – für mich waren sie wesentlich. Ich war bereits Jahre vorher stehen geblieben, hatte alle Signale einfach übersehen. Mein Lebensziel war es, Schriftstellerin zu werden. Sprache bedeutete mir alles. Ich habe Jahrzehnte gebraucht, meine literarische Sprache zu entwickeln, die ganz anders ist als das, was ich hier schreibe. Und im Endeffekt hatte ich dieses Ziel irgendwann aus den Augen verloren.

In meiner Kindheit liegt ein dunkles Geheimnis vergraben, das ich lange Zeit als „wer weiß, ob es wahr ist“, zur Seite gelegt habe. Meine immer vorhandene innere Wut, mein extrem selbstbewusstes Auftreten trotz innerer Zweifel an meinen Fähigkeiten, sind Folgen von dem, was ich ertragen musste. Alles Weitere, meine fehlende Kontinuität, mein Selbsthass, meine Wut, meine Unzufriedenheit, meine Depressionen, die mich ewig begleiteten, sind Auswirkungen meines von Kindheit an gebrochenen Selbstwertes. Ich habe all das viel früher gesehen, habe im Ansatz Zusammenhänge erkannt, um nichts zu ändern.
Vielleicht war mein Psychologiestudium wenig mehr als der verzweifelte Versuch, ein Handbuch zur Lösung meiner Probleme in die Finger zu bekommen. Wer weiß. Im Grunde war ich sehr rational, wissenschaftlich orientiert und erst in meiner theaterpädagogischen Ausbildung spürte ich plötzlich, wie ich Sauerstoff aufnahm, wieder atmen konnte, weil ich Zugang zu meinen Emotionen bekam.

Es mussten viele weitere Jahre vergehen, in denen ich meine Erkenntnisse immer wieder in Gehirnwindungen verschob, bis ich endlich in dieser Krankheit zusammenbrach und nach und nach nicht nur verstand, sondern anfing zu handeln.

In meinem Bauch ist irgendwo dieses Zentrum der Unbehaglichkeit, wenn ich erneut versuche, mich zu betrügen. Ich habe ein Warnsystem in mir entwickelt, das rechtzeitig aufblinkt, wenn ich mich von mir entferne. Und ich glaube, dass dieses System in jedem Menschen vorhanden ist, dass es wenig mehr braucht als Achtsamkeit, die inneren Zustände zu begreifen.  Sich selbst zu spüren, ist der erste Schritt andere Menschen zu spüren. Sich selbst zu verstehen, ist der erste Schritt andere zu verstehen. Das Begreifen für unsere Welt beginnt bei uns selbst. Es beginnt jeden Tag.

Wenn wir durch unser Leben hetzen, können wir nichts mehr mitbekommen, von dem, was in uns passiert und von dem, was uns umgibt. Wir hängen uns an falschen Werten auf mit der Annahme, dass es der materielle Wohlstand ist, der ein Leben glücklich werden lässt.  Ich habe in meiner schweren Erkrankung verstanden, dass Gesundheit das höchste Gut von allen ist, dass die eigene Unversehrtheit das größte Geschenk im Leben bedeutet. Diese Gesundheit zu schützen, sowohl die physische als auch die psychische, sollte ein existentielles Ziel sein. Wer mit sich selbst nicht mehr im Reinen ist, wird es auch niemals mit anderen sein.

Sich aus der Bahn geworfen zu fühlen, den eigenen Körper als Bedrohung zu erleben, wird dem, was der Körper Tag für Tag leistet nicht annähernd gerecht. Dankbarkeit für diese Hülle aus einer schützenden Haut, Dankbarkeit für all die Dinge, die man mit Hilfe seines Körpers erleben darf, Respekt vor dem eigenen Sein ist etwas, das in unserer heutigen Gesellschaft in den Hintergrund gerückt ist. Es sind andere Werte, die als wesentlich erachtet werden, Werte, denen wir gerne folgen, weil sie unsere Augen verblenden und uns ein scheinbar unbeschwertes Leben garantieren. Wer genauer hinsieht, erkennt hinter diesem vermeintlich unbeschwertem Leben neben all den Annehmlichkeiten und Freuden ebenso Missgunst, Neid, Wut, Eifersucht und andere verzichtbare Empfindungen.

Die wirkliche Zufriedenheit liegt in der Entdeckung des Selbst.

Das eigene Ich ist die Heimat. Wenn die Einheit von Körper, Geist und Seele verloren geht, bleibt das Gefühl einer Zerrissenheit zurück, das jede innere Sicherheit in ihre Bestandteile zerlegt. Eine schwere Erkrankung öffnet die Augen und es ist ein mehr als steiniger Weg, die Bruchstücke zusammenzufügen, um die verloren gegangene Einheit wieder herzustellen.

Achtsamkeit, Selbstschutz, Eigenverantwortung sind wesentliche Mechanismen, die das Gefüge aus Seele, Geist, Körper zusammenhalten. Indem wir unsere Freiheit verschenken, sie nicht wahrnehmen oder einfach abgeben, um über uns bestimmen zu lassen, gefährden wir unsere innere Ruhe und jedes Gleichgewicht. Das darf nicht passieren und es passiert – Tag für Tag.