Man konnte ein neues Haus bauen oder ein altes ganz neu gestalten. Das hatten die Kinder heute im Werkunterricht gelernt und jeder hatte eines aus Papier gebastelt. Mit Buntstiften bekritzelte Wände, Dächer mit Luftlöchern für den direkten Blick gen Himmel, acht Fenster in einem Raum für die unterschiedlichen Blicke auf die Welt und Größen und Formen und Farben so unterschiedlich wie die Natur jedes einzelnen Menschen. Keines der Häuser war besonders stabil, doch jedes ein Anfang. Noten gab es diesmal nicht, das sei nicht zielführend, sagte der Lehrer. Die eigentliche Aufgabe war es nämlich, sagte er am Ende der Stunde, dass jeder beim nächsten Mal einen Gegenstand von Zuhause mitbringen solle, der ihm etwas bedeutet und den man dann nachzubauen versuchen würde.

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Was könnte das wohl sein? Auf dem Weg nach Hause kam ihm der Hut seines Großvaters in den Sinn, der die Wand im Flur dekorierte. Großvater lebte nicht mehr, aber man konnte ihn immer im Herzen tragen, hatten seine Eltern damals gesagt. Hmm, sie würden es wohl nicht so toll finden, wenn er das Erbstück mit in die Schule nahm, das sein Opa an guten und an schlechten Tagen getragen hatte? Zuhause kramte er in seinen Schubladen, doch weder die Steinschleuder (deren Bestimmung er längst überdrüssig geworden war), noch die Sammelkarten mit den Fußballnationalspielern oder den Pokal, den er beim Turnier mit seiner Mannschaft gewonnen hatte, hielt er für lohnenswert nachzubauen.

So weitete er seine Suche auf die anderen Räume des Hauses aus. Sein großer Bruder boxte ihm in die Seite, als er die Playstation aus dessen Zimmer tragen wollte und seine Schwester beschwerte sich lauthals, dass er sie beim Telefonieren mit einer Freundin störte. In der Küche fand er nur Töpfe und Pfannen und ein großes Stück Kuchen. Lecker. Dann sah er sich im Wohnzimmer um. Seine Eltern hätten ihm was gehustet, wenn er das Grammophon in die Schule geschleppt hätte, das sie auf einem Flohmarkt erstanden hatten. Die Stereoanlage daneben eignete sich auch nicht für die Erfüllung der Hausaufgabe.

Er setzte sich auf die Sofalehne und starrte an die Decke, in der Hoffnung, ihm fiele bald etwas ein, das er gebrauchen konnte. Genau! Genau über ihm befand sich die Lösung. Der Dachboden! Ein Reich voll Plunder und Zauberzeug, das er lange nicht mehr betreten hatte. Er stieg die Treppe nach oben und war überrascht, dass die Tür unverschlossen war. Kisten über Kisten, eingestaubt und mit Spinnweben verziert. Stunden waren vergangen, als die Eltern zum Abendessen im ganzen Haus nach ihm riefen. Er war fündig geworden. Ob man ein Tagebuch nachbauen konnte?

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Es war gar nicht so leicht, die Handschrift seines Großvaters zu entziffern:

* WAS AUCH IMMER du erlebt hast… bleibe offen für neue Erkenntnisse in deiner Zeit auf Erden.
* WAS AUCH IMMER dir auf deinem Weg begegnen wird… hab keine Angst weiterzugehen. Und sei es, indem du die Richtung änderst. * WAS AUCH IMMER dir jemand an Leid zugefügt hat… vertraue darauf, dass du stark genug bist, es zu überwinden. * WAS AUCH IMMER jemand an Zweifeln über dich äußern mag… vertraue auf deine eigenen Fähigkeiten. * WAS AUCH IMMER es für Ängste gibt, die dich daran hindern etwas zu tun, das dir wichtig erscheint… frage dich, woher sie kommen. So kannst du sie überwinden. * WAS AUCH IMMER dir jemand an Negativem zufügen würde… füge es niemals Anderen zu. * WAS AUCH IMMER du vorhast und planst… stürz dich hinein und mach dich frei von allen Ängsten.

Henriette Licht

 

 

(Anmerkung der Redaktion: Die Geschichte „Was auch immer“ wurde in der AUSZEIT 01/2018 leider mit einem Druckfehler veröffentlicht. An dieser Stelle die korrigierte Originalversion.)