Der Mensch tanzt, seit es ihn gibt. Angefangen bei den schamanistischen Wurzeln der Regen- und Sonnentänze über das klassische Ballett bis hin zu den modernen Kunst- und Kulturtänzen: Sie sind der Rhythmus einer tiefen Sehnsucht nach Einheit und Harmonie.

Der Mensch tanzt, seit es ihn gibt, aber auch vor dem Menschen wurde bereits getanzt. Tanz und Musik sind keine künstlerischen Ausdrücke, die allein dem Menschen liegen. Die Singvögel erzählen ein ewiges Lied mit ihren Melodien und Balztänzen. Die südostasiatischen Gibbons sind bekannt für ihre einprägsamen Gesänge und der Tanz der Flamingos inspiriert seit jeher die südeuropäische Kultur.

Tanz und Musik wurden vom Menschen nicht erfunden, sondern adaptiert. Zahlreiche Tänze und Rituale werden von schamanistischen Urkulturen zur Feier bestimmter Tierarten praktiziert und ahmen deren Bewegungen nach. Doch nicht die präzise Nachahmung einzelner Tiere steht bei den Tänzen im Vordergrund, sondern das Lobpreisen der ewigen Harmonie, mit der die Natur alle Wesenheiten verknüpft. Die indigene Bevölkerung Amerikas zelebriert darum besonders gerne das Wesen bestimmter Raubtiere, da durch diese der Kreislauf von Leben und Tod besonders gut beschrieben wird. Diese ürsprünglich anmutenden Tänze und Rituale lassen sich bis heute bei überlebenden schamanistischen Urkulturen und indigenen Völkern des amerikanischen und afrikanischen Kontinents beobachten.

Doch die Faszination und Sehnsucht nach Einheit und Harmonie findet auch in der Moderne ihren Widerhall. So geben zahlreiche europäische Tänze ganz bewusst die Schönheit der Natur wieder. Der Stepptanz des Flamenco erinnert mit seiner kraftvollen Ausprägung an die Paarungsrituale des Flamingos. Der argentinische Tango hat ebenfalls eine sehr starke Ähnlichkeit mit dem Balztanz der Vögel.

Alles fließt

Dennoch ist nicht alles gleich geblieben in der Welt der rhythmischen Bewegung. Ganz im Gegenteil befindet sich der Tanz in einem stetigen Fluss der Veränderung, was schon allein durch das situative Element der Bewegung gewährleistet wird. Mit der Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft tritt aber auch eine größere Differenzierung der Tanzkultur in Kraft. Einerseits entstehen neue Jugendkulturen, in denen sich Sprache, Musik, aber auch der Tanz neue Formen suchen. Andererseits werden sittliche Vorschriften strikter und Tänzer sehen sich dann oft ganz verschiedenen Repressionen ausgesetzt.

Die gesellschaftliche Entwicklung in Kombination mit der musischen ist interessant, denn sie zeigt auf, wie widerstandsfähig Tanz und Musik durch kontinuierliche Anpassung sind. Tanz und Musik ähneln in der menschlichen Kulturentwicklung dem Wasser, dass sich immer wieder neue Wege bahnt. Wird eine bestimmte Form des Tanzes verboten, so treten schon bald viele neue Versionen auf den Plan, die das Verbotene ersetzen. So wie das Wasser, das zurückgehalten wird und sich andere Wege sucht, um zum Ziel zu gelangen, so sucht auch das Musische, Künstlerische und Tänzerische immer wieder seinen Ausdruck.

Hier werden die Ketten nicht mit Gewalt durchbrochen, sondern mithilfe neuer Kreationen ein sanftes Plätschern mit gewaltiger Sprengkraft geschaffen. Der Mensch will sein Verlangen nach der Einheit mit allem in der rhythmischen Bewegung ausdrücken, koste es, was es wolle. Und aus der Unterdrückung entstandene Stile verbergen oft neben der Schönheit des Ablaufs auch eine tiefgreifende Kritik an der ewigen Vereinnahmung. Eine Kritik, die im Moment der Bewegung vernichtend wirkt, da sie allein durch die dargestellte Lebensfreude aufzeigt, wie nichtig und erbärmlich die stetigen Bemühungen des Menschen sind, sich die Welt untertan zu machen.

Protestierende Lebenslust

So berichten herausragende Tänze und Musikgattungen der menschlichen Kultur nicht nur von Einheit und Harmonie sondern auch von Zerrissenheit, Versklavung und Unterdrückung. Als bekanntestes Beispiel hierfür gilt der Blues, der durch die Gesänge der schwarzen Arbeiter auf den Plantagen der USA entstanden ist. Der hieraus entwickelte „Rock ’n’ Roll“ beziehungsweise „Rhythm and Blues“ feierte in den vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die Befreiung der Schwarzen in einer nie zuvor gekannten rhythmischen Ausprägung.

Der Tanz des Rock ’n’ Roll galt hier sowohl als Zeichen der Befreiung aus gesellschaftlichen als auch aus sexuellen Zwängen. Ein Paartanz mit unkontrolliert und wild aussehendem Körperkontakt entstand durch den Rock ’n’ Roll und riss die Grenzen der alten Tugendhaftigkeit ein. Die schwarze Community tanzte sich hier ein halbes Jahrtausend Versklavung vom Leib. Und trotz all der Modernität erinnern die rhytmischen, teilweise ekstatischen, Bewegungen der Tänzer an transzendierte Schamanen bei dem Versuch, einen jahrhundertealten Fluch aus den Knochen des Menschen zu bannen.

Der Flamenco mit seinen Ursprüngen im spanischen Andalusien erzählt eine ganz ähnliche Geschichte, erscheint am Ende aber wesentlich pessimistischer. Er entsteht während der jahrhundertelangen Unterdrückung während und nach der Rückeroberung Spaniens durch die europäischen Katholiken. Eine Schmelztiegelmusik wird geformt durch Juden, Araber, Sinti und Roma, die zusammengepfercht in Ghettos am Rande der Städte um ihr Überleben kämpfen müssen. So aussichtslos, wie die Lage der zusammengepferchten Kulturen erscheint, so klingen auch viele Stücke (Palos) des Flamenco. Über der spanischen Kadenz der Flamenco-Gitarren schwingt eine trauernde und arabisch klingende Stimme und beschreibt das unerträgliche Schicksal, aus dem der Mensch nicht entweichen kann. Stepptänzer beantworten den trauernden Gesang mit zornig anmutenden Tanzeinlagen. Es mutet wie ein stolzes Aufbäumen gegen das vorgeprägte Schicksal an. Doch die Situation erscheint im Flamenco immer fatalistisch und ausweglos.

Der Tango entsteht durch ähnliche Begebenheiten in der Hauptstadt Argentiniens um das Jahr 1880. Zahlreiche Glücksritter und Goldsucher aus allen Ecken der Welt müssen wegen einer abgewendeten Landreform in Armenvierteln von Buenos Aires überleben. Und so treffen Tanzstile wie die Böhmische Polka, die polnische Mazurka, der deutsche Ländler und die kubanische Habanera aufeinander. Das deutsche Bandoneon, abfällig auch als Schifferklavier bezeichnet, wird zum Vorzeigeinstrument des neuen Musikstils. Der Tanz formt sich aus dem Zwang der Umstände. Gegenüber einer Masse von männlichen Abenteurern existiert nur eine geringe Menge an weiblichen Stadtbewohnern.

Der Paartanz des Tango erlaubt es also den Stadtbewohnern friedfertig miteinander umzugehen und zivilisiert um die Gunst der Frauen zu buhlen. So definiert sich der Tango bis heute durch ein hohes Maß an Improvisation und Feingefühl. Der Ausdruck des Tänzers ist stürmisch, fordernd und temperamentvoll, während die Tänzerin sanft davongleitet. Unerreichbar und anmutig wie der Flug des Schmetterlings. Während der Flamenco in jeder Hinsicht transzendierenden Charakter hat, zeigt sich der Tango im schlichten Gewand der Liebe. Hier geht es um das Begehren in den Straßen und Gassen der kleinen Menschen.

Der Tango bekommt seinen Charakter, während die Tanzenden verschmelzen und zeigt auf, dass auch im weltlichen Fluss der Sinne die Magie des Lebens enthalten ist. Und weil der Mensch zu allen Zeiten auch in der schwärzesten Stunde lachen und tanzen kann, macht das Leben Sinn.

 

Dieser Artikel stammt aus dem AUSZEIT-Magazin, das noch viele weitere tolle Themen für Euch bereithält.

 

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Bildquellen: Photo by Krista McPhee on Unsplash