Achtsamkeit ist kein Zustand, der den meisten Menschen kontinuierlich gelingt. Sie erfordert eine vollkommene Präsenz für den Augenblick. Leben in der Gegenwart – das ist Achtsamkeit, wie sie in dieser Form vermutlich nur buddhistischen Mönchen gelingt.

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Der Großteil der Menschen entfernt sich immer wieder von der achtsamen Betrachtung des Augenblicks. Gedanken wandern ins Gestern zurück oder eilen bereits in die Zukunft.

In Klöstern, sowohl in der buddhistischen als auch der christlichen Welt ertönen Glocken, die daran erinnern, zur Gegenwart zurückzufinden.

Die bewusste Achtsamkeitsübung setzt Ruhe voraus. Im Lotussitz lässt sich über Achtsamkeit meditieren. In den Alltag ist diese Form der Übung meist schwer zu integrieren. Ein Klang in Form einer Glocke, eines Weckers oder eines anderen Signals ist allerdings eine gute Möglichkeit sich daran zu erinnern, achtsam leben zu wollen. Ertönt der Klang, lässt sich für kurze Zeit innehalten, um den Augenblick wahrzunehmen.

Diese kleine Pause ermöglicht es, Ruhe im Inneren herzustellen, den Alltag zur Seite zu schieben, um sich voll und ganz auf die Qualität des Augenblicks einzulassen. Diese Momente können mit Affirmationen gefüllt werden:

Das Leben liebt mich.
Ich werde bei dem, was für mich wichtig ist, unterstützt.
Ich ruhe in mir.

Es ist nicht entscheidend für welches Signal sich jemand entscheidet, sei es die Kirchturmuhr, den Handywecker oder die Sirene von einem Krankenwagen. Entscheidend ist, sich immer wieder diese kleinen Momente zu nehmen, um sich und seine Umgebung tief zu spüren. Wir leben nicht isoliert, sondern sind der kleine Teil eines Ganzen.

Eine gute Möglichkeit, störende Geräusche positiv zu verwandeln ist es, sie in den Fokus der Wahrnehmung zu rücken, weil sie dadurch ihr negatives Potential verlieren.

Unser Leben ist immer von verschiedenen Emotionen begleitet. Da ist Schönes und Unschönes. Es ist aber weder möglich noch förderlich, das eigene Leben dauerhaft positiv konditionieren zu wollen. Wut, Freude, Trauer, Schmerz, Lust gehören zusammen. Dieses System von Emotionen ergänzt sich. Nichts davon sollte ausgeschlossen werden. Akzeptanz den eigenen Empfindungen gegenüber bedeutet, sich als menschliches Wesen voller Emotion zu begreifen. Nichts ist überflüssig.

Die Realität akzeptieren

Vieles in meinem Leben habe ich für überflüssig gehalten und vieles wollte ich erzwingen. Ich konnte mich nicht mit der Krankheit abfinden, nicht mit den furchtbaren Schmerzen. An Beziehungen, die vorbei waren, habe ich mich festgeklammert, wollte sie wiederbeleben. Im Netz gibt es so schöne Artikel zum Thema: „Wie gewinne ich meinen Ex zurück?“ Meine Antwort lautet: „Vielleicht gar nicht?“

Warum ist es so schwierig, die Realität zu akzeptieren und sogar den Gedanken zuzulassen, dass Trennungen einen Sinn haben könnten? Wäre das Leben nicht in vielen Bereichen deutlich einfacher mit einer vorliegenden Bereitschaft, den Dingen ihren Lauf zu lassen? Warum quälen sich unzählige Menschen damit, in der starren Haltung der Hoffnung stecken zu bleiben?

Ein Buch, das mir nicht gefällt, lege ich normalerweise zur Seite, von den Büchern abgesehen, die zum Beispiel im Studium zur Pflichtlektüre zählen. Ein Kleid, das mir nicht steht, werde ich nicht kaufen. Das sind Entscheidungen im Bereich der Banalität. Eine Beziehung aufzunehmen oder sich in ihr zu verbeißen, ist deutlich weniger banal. Hier geht es darum glücklich oder unglücklich zu werden. Und auch wenn diese Entscheidung zu den Wesentlichen zählt: Es wird geklammert – auf Teufel komm raus.

In einem Kleid, das nicht für mich geschaffen ist, fühle ich mich unwohl, wenn ich es trage. In einer Beziehung, die mich nicht erfüllt, verliere ich mich, verliere ich den Halt. Ich liefere mich meinen eigenen Emotionen bedingungslos aus. Und trotzdem sind viele Menschen eher bereit, einer Beziehung hinterherzulaufen, sich für das zu entscheiden, was ihr Glück zerstören könnte. Das Kleid aber bleibt im Laden hängen. Ist das nicht lustig?

Wir berauben uns oft des möglichen Glücks.

Wir halten fest, so weh es auch tut. Sorgen dafür, dass unsere Gedanken ein Eigenleben führen. Denn nicht wir kontrollieren die Gedanken. Die Gedanken kontrollieren uns.

Es gibt eine schöne Geschichte aus dem Zen-Buddhismus:

„Der Schüler ging zum Meister und fragte ihn: „Wie kann ich mich von dem, was mich an die Vergangenheit heftet, lösen?“ Da stand der Meister auf, ging zu einem Baumstumpf und umklammerte ihn und jammerte: „Was kann ich tun, damit dieser Baum mich loslässt?“

Es ist aus meiner Erfahrung nicht leicht, störenden Gedanken ihren Einfluss zu nehmen, ihnen den Boden für ihr Wirken zu entziehen. So ging es mir über einen sehr langen Zeitraum. Ich könnte auch sagen: Mein Leben lang war es nicht anders. In den ersten vier Jahren meiner Erkrankung gab es vermutlich nicht einen Tag, an dem ich nicht über diese Krankheit nachgedacht habe, wütend war oder entsetzt. Aber wie soll sich etwas aus dem Leben verabschieden, wenn es freien Raum zur vollen Entfaltung erhält?

Achtsamkeit ist Selbstschutz

Achtsamkeit ist auch eine Form von Selbstschutz, die gelebt werden möchte. Achtsam kann ich unmöglich zulassen, von meinen eigenen Gedanken in den Abgrund geworfen zu werden. Und ich lasse es nicht mehr zu.

Ich habe viel über mein Leben berichtet, deutlich mehr als es meine ursprüngliche Absicht war. Aber vielleicht ist es so, dass ein tiefer Fall viel deutlicher macht, was es bedeutet, sich selbst immer mehr zu übersehen. Vielleicht wird der ein oder andere begreifen, dass in seinem Leben Handlungen angesagt sind. Worte und leere Versprechen reichen der Seele, dem Körper, dem Geist nicht aus, wenn das Boot kurz davor steht zu kentern.

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