Als kleiner Junge konnte ich stundenlang mit meinem Roller ums Carré sausen und meinen Gedanken nachhängen. Nicht selten formte sich dabei in meinem Kopf eine Welt, in der ich alles Mögliche war und alles Mögliche konnte. Keine Pläne, nur Träume. Und dann kam das Leben …

Ich habe oft darüber nachgedacht, warum in meinem Leben alles so gekommen ist, wie es letztendlich eintrat. Als 6-jähriger Junge habe ich unten auf der Treppe unseres Mehrfamilienhauses gesessen und die Zeitung gelesen, bevor ich sie meiner Mutter hochbrachte. Als unsere Nachbarin mich eines Tages ganz erstaunt fragte, ob ich überhaupt verstehe, was da drin steht, hab ich das aus vollster Überzeugung bejaht.

Und ich wusste auch schon, was ich später werden wollte – Baumeister natürlich, neue Städte bauen, hohe Häuser, drumherum viel Grün. Ein Kindheitstraum. Naja, Baumeister wurde ich nicht. Aber mein bisher gegangener Weg ist so voller unterschiedlicher Facetten und Farben, dass im Lebenslauf auch dafür noch ein Platz gewesen wäre. Es gab immer wieder Momente, in denen ich mich entscheiden musste, in welcher Richtung es jetzt weitergeht. Oder es wurde für mich entschieden, manchmal ziemlich radikal.

Respekt vor dem Leben

Die Schule ist mir ziemlich leicht gefallen, was unter anderem auch dazu führte, dass ich sehr bald in allen möglichen „Arbeitsgemeinschaften“ und Funktionen unterwegs war. Zumindest hatte ich Glück, dass ich bei den Mitschülern nicht als Streber gemobbt wurde – vielleicht weil ich auch ganz passabel und mannschaftsdienlich Fußball spielen oder als Diskjockey Punkte sammeln konnte. Vor allem aber habe ich meinen Respekt anderen gegenüber nie von ihrem Notendurchschnitt oder ihrer Stellung in den Gruppenhierarchien abhängig gemacht. Das war für mich so selbstverständlich, dass es selbst bei pubertierenden Rabauken irgendwie entwaffnend wirkte.

„Aber es gibt immer Menschen, die einem dabei helfen, genau diesen Glauben an sich wieder zu finden.“

Diese Art von Respekt hat mir übrigens zu einem ganz großen Teil meine Mutter auf den Weg gegeben. Sie selbst hatte Krieg und Flucht miterlebt und hat schon in jungen Jahren eine große Last auf ihren Schultern tragen müssen. Aber sie war und ist immer noch so voller Lebenslust und Herzlichkeit, und gleichzeitig jemand, für den Liebe und Ehrlichkeit mehr bedeuten, als Zeugnisse und Zertifikate.

Das ist eine Einstellung, die mir selber auch hilft, den Menschen etwas tiefer in ihr Herz zu schau‘n, ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie unterschiedlich Lebenswege verlaufen können und wie sehr sich diese Wege dem Versuch entziehen, sie eindimensional bewerten zu wollen.

Scheidewege

Aber zurück zu meinen eigenen Entscheidungen: Als ein Jahr vor dem Abitur die Studienwahl getroffen werden musste, standen mir viele Wege offen. Aufgrund meiner Noten und allem drumherum hätte ich sogar den einzigen Platz für ein Medizinstudium bekommen, der für unsere Schule zur Verfügung stand. Und ich habe abgelehnt. Stattdessen habe ich mich für ein Politikstudium entschieden, bzw. für das, was die DDR-Ideologie in diese Richtung zugelassen hatte. Ich wollte die Welt weiter verstehen lernen, besser begreifen, warum Menschen das tun, was sie tun. Und natürlich Brücken bauen, zwischen Gedanken, Worten, Menschen – also doch quasi „Baumeister“ werden.

Großes Kopfschütteln ringsum: Ich würde „den Fehler meines Lebens machen“, „ein Stückweit mein Leben wegwerfen“. Auch wenn ich später oft mit dem Gedanken gespielt habe, was wäre, wenn ich mich anders entschieden hätte – gehadert habe ich mit meiner Entscheidung nie. Und es war auch kein böser Streich, den mir das Schicksal gespielt hatte. Es war meine eigene Entscheidung. Meine Eltern haben diese Entscheidung respektiert, auch wenn meine Mutter ganz besorgt gefragt hatte: „Was machst du, wenn es mal anders herum kommt?“ Ich habe damals kopfschüttelnd gelächelt, glaube ich. Und dann kam es „anders herum“ …

Umgehauen

Ohne jetzt die ganze politische Wende von vor genau 30 Jahren hier abzuspulen, für mein Leben und meinen Weg waren diese Wochen, Monate, Jahre ein Umbruch ohnegleichen. Ich kam abends aus der Uni nach Hause, um dann in den Nachrichten zu hören, dass sich grad wieder ein guter Teil unseres bisherigen Lebens in Luft aufgelöst hatte, Altes nicht mehr galt, Neues noch nicht da war. War ich am Tag davor noch voller „Wende-Euphorie“, so war dann das, was ich mit vielen anderen ändern wollte, quasi über Nacht gar nicht mehr da. Lebenspläne waren über den Haufen geworfen, Träume wurden obsolet, Entscheidungen standen fast im Wochentakt an. Für eine Familie mit zwei Kindern ein gewaltiger Balanceakt. Und so hatte ich Entscheidungen für mich getroffen, die dann letztendlich nicht nur beruflich in eine Sackgasse führten, sondern auch die Familie zerbrechen ließen.

„Es gab immer wieder Momente, in denen ich mich entscheiden musste, in welcher Richtung es jetzt weitergeht.“

Da saß ich dann, spät abends in meinem neuen Büro, allein, viel Arbeit ohne Gehalt, kein Geld für die Fahrt nach Hause – wo ich ja auch nur allein gewesen wäre. Abwechselnd dröhnten Led Zeppelin und Selig aus den Boxen, und ich hatte immer wieder die Frage vor Augen: Warum ich? Womit habe ich das verdient? Das verdammte Schicksal hatte mich auf dem Kieker, hatte mich quasi auf die Bretter gehaun …

Aufrappeln

Wer einmal in einer solchen Situation war, der weiß, wie schwer es ist, da wieder rauszukommen. Der weiß aber auch, dass es keine leeren Worte sind, wenn man die oft leichthin gemachten Sprüche hört, wie: „Irgendetwas geht immer.“ oder „Wenn eine Tür zugeht, öffnet sich eine andere.“ Wenn man am Rande seiner Existenz steht, rettet einem eine solche Tür oft im wahrsten Sinne des Wortes das Leben. Klar, durchgehen muss man schon selber, das braucht Kraft und den Glauben an sich selbst. Aber es gibt immer Menschen, die einem dabei helfen, genau diesen Glauben wieder zu finden. Die einen an die Hand nehmen, oder einem, wenn es sein muss, auch mal kräftig in den Hintern treten, damit man in Bewegung kommt.

Ich hatte solche Menschen gefunden und eigentlich schon längst um mich gehabt, die mich wieder lächeln, hoffen und lieben ließen, die mir halfen, wieder in die Spur zu finden und meinen Weg weiterzugehen. Einen Weg, auf dem sicher noch die eine oder andere Überraschung auf mich wartet, ein Weg, von dem ich aber auch kein einziges Stück missen will.

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