Wir kommen allein auf die Welt und werden sie auch allein wieder verlassen. Wer sein Alleinsein erkennt und annimmt, kann daraus sein Potenzial schöpfen und das der anderen wertschätzen. Als Einzelwesen, fähig zu wahrer Gemeinschaft.

Ich muss etwa elf Jahre alt gewesen sein, als mir bewusst wurde, dass – egal wie nahe mir ein Mensch steht – ich die Welt doch immer nur aus meinen Augen betrachten, nur meine Gedanken denken, meine Gefühle erleben kann. Die Entdeckung, in unserem Innersten immer allein zu sein, fühlte sich anfangs schmerzhaft an. Sie setzte einen Meilenstein in meinem Abnabelungsprozess, der für mich, als das Mädchen eines Zwillingspärchens, besonders bedeutsam war, da ich mich lange Zeit allein immer irgendwie als ‚halb‘ wahrgenommen habe.

Trotzdem, oder gerade deswegen, genoss ich es schon damals, manchmal allein sein zu können. Dass ich mich heute noch so genau daran erinnere zeigt, wie bedeutsam dieses Erkennen für mich und mein weiteres Leben war, obwohl mir das erst Jahrzehnte später bewusst wurde. Allein sein zu können, fördert die Entwicklung zur Selbstständigkeit.

Freiräume schaffen

Unser Bestreben, unseren Kindern möglichst viel an Förderungen und Aktivitäten anzubieten, um ihnen eine gute Grundlage für ihr Erwachsenenleben zu bieten, findet seine Fortsetzung in unserer Aktivitätsgesellschaft – nur ja kein Leerlauf! In einem vollgepackten Leben bleibt der Mensch selbst auf der Strecke. Zeit für uns selbst und somit die Auseinandersetzung und Begegnung mit uns selbst, hat keinen Platz mehr. Häufig hat das zur Folge, dass wir mit uns selbst nichts mehr anfangen können, uns rasch gelangweilt fühlen.

„Wer sich mit sich selbst wohlfühlt, ist ausgeglichener.“

Viele sind es einfach nicht oder nicht mehr gewöhnt, sich allein zu beschäftigen. Langeweile ist ein so negativ besetztes Wort, dabei bedeutet es doch eigentlich nur, dass wir Zeit zu unserer freien Verfügung haben, also im Grunde ja etwas, was wir uns so oft sehnlichst wünschen und gefühlt viel zu selten bekommen. Doch wenn es dann soweit ist, sind wir von der Situation und all ihren Möglichkeiten plötzlich überfordert.

Für unsere Kinder sind wir das Buch, in dem sie lesen. Wenn sie miterleben, dass wir gern mal für uns sind, uns zurückziehen, lernen sie dabei nicht nur das zu akzeptieren. Sie werden selbst Geschmack daran finden. Besonders dann, wenn sie bemerken, wie gut uns unsere Auszeit tut, dass wir danach ruhiger, geduldiger und auch fröhlicher sind. Zeit für uns, bringt uns in Kontakt mit uns selbst!

Alleine Gestalter sein

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Gerne allein zu sein, steht keinesfalls im Widerspruch dazu. Leben in Gemeinschaft stellt Anforderungen an den Einzelnen. Damit ein gelingendes Miteinander möglich wird, ist es von Vorteil, uns selbst gut zu kennen. Und wann könnte das Kennenlernen besser gelingen, als wenn wir allein sind? Wir bekommen Gelegenheit, unsere Wünsche aufzuspüren, Begabungen zu erkennen und zu entfalten.

Indem wir uns selbst beobachten, uns hinterfragen und zurechtrücken, gestalten wir uns selbst immer mehr so, wie es unserem wahren Wesen entspricht. Wir erkennen, was wirklich zu uns gehört und was wir nur übernommen hatten, um zu gefallen oder auch aus Unkenntnis unseres eigenen Potentials. Sowohl unsere Eigenständigkeit, also auch die Fähigkeit, Beziehungen eingehen zu können, entsprechen unserer Natur. Aus dem einen lässt sich die Kraft für das andere schöpfen. Wer sich Zeit für sich selbst nimmt, ist nicht egoistisch, ganz im Gegenteil: Er legt Grundsteine für ein erfülltes Leben und ein bereicherndes Miteinander. Wer in sich ruht, macht anderen Mut!

Spirituelle Basis – „Alleine Sein“

Das Gefühl der Einsamkeit wird als so schmerzlich erlebt, weil wir uns dann abgetrennt erleben, uns ausgeschlossen fühlen. Eines der Grundbedürfnisse des Menschen ist Zugehörigkeit. Dieses Bedürfnis kann in die Abhängigkeit von der Zuneigung anderer führen, es kann uns aber genauso gut frei davon machen. Wenn es uns gelingt, allein aufgrund der Tatsache unseres Daseins auf dieser Welt, Verbundenheit zu spüren, werden wir uns niemals einsam fühlen.

Heute Morgen kündete bereits die Farbe des Himmels im Osten von einem wundervollen Herbsttag. Ich griff nach meiner Kamera, es zog mich sofort hinaus in die Natur. Beinahe vor unserem Haus führt ein Kanal vorbei. Dieser ist zwar künstlich angelegt, konnte sich in drei Jahrzehnten jedoch zu einer wahren Naturoase entwickeln. Die aufgehende Sonne malte zauberhafte Reflexionen auf die Wasseroberfläche. Die darüber schwebenden Dunstfelder erzeugten eine mystische Stimmung.

Ringsum die Natur in beginnender Herbstfärbung. Ein paar Enten zogen gemächlich an mir vorbei. Es schien, als wolle die Sonne mit ihren Strahlen die Szene förmlich umarmen … In solchen Momenten verschmelze ich mit der Natur, erkenne mich als Teil von ihr und als solcher in ihr geborgen.

Sei dir selbst genug

Solche Einheitserlebnisse machen uns unabhängig und stark. Aus dieser spirituellen Basis heraus entwickeln wir unser Selbstbewusstsein und stärken gleichzeitig unsere Liebesfähigkeit. Liebe nicht als romantisches Gefühl, sondern als unsere Grundhaltung dem Leben gegenüber. Dann sehen wir uns als das, was wir sind: ein Teil der Schöpfung, nicht mehr und nicht weniger. Wenn wir uns selbst genug sind, dann wird der Andere nicht länger gebraucht. Dann wird seine Autonomie genauso anerkannt und geachtet wie die eigene.

Das macht uns auch frei. Frei zu entscheiden, wie wir leben wollen: Ob uns das Alleinsein mehr entspricht oder ob wir eine Bindung eingehen wollen. Unsere Unabhängigkeit macht uns reif für wahre Begegnungen, egal für welche Lebensform wir uns dabei auch entscheiden. Jeder ist allein. Doch da, wo mein DU anfängt und dein ICH aufhört, da begegnen wir uns, da sind wir in Liebe miteinander verbunden, ganz selbstverständlich.

„Die Entdeckung, im Innersten immer allein zu sein, war schmerzhaft.“

Wer sich auf diese Weise immer wieder stärkt, bringt Segen in sein Leben und somit auch in seine Beziehungen. Eines der Erfolgsrezepte gelingenden Miteinanders ist die Akzeptanz und Beanspruchung von Freiräumen. In einer Beziehung zu sein bedeutet nicht, so oft wie möglich zusammen zu sein. Es bedeutet vielmehr, sich aufeinander einzulassen, mit allem, was dazugehört. Wenn zwei gewillt sind einander zu stützen, den nötigen Halt und auch Raum zu geben, um sich beständig Richtung Licht zu erheben, dann sind sie wahrlich in Liebe verbunden.

Der Halt, den wir einander geben, ist die eine Säule. Der Raum, den wir uns nehmen oder dem anderen zugestehen, die andere. Freiraum ist, sich dem zu widmen, was man gern mag, was Erfüllung schenkt. Wer sich mit sich selbst wohlfühlt und auch gern mal allein etwas unternimmt, ist ausgeglichen und bringt neue Impulse mit. Neues ist immer aufregend und hält Beziehungen lebendig.

Energiehaushalt

Feinfühlige Menschen haben die Gabe, spüren zu können, wie andere sich fühlen. Das ist Geschenk und Herausforderung zugleich. Denn dieses Spüren beschränkt sich nicht nur auf die Menschen im eigenen Umfeld. Die Energie in einer Warteschlage an der Supermarktkasse wird genauso wahrgenommen, wie die der Kollegen im Büro nebenan. Das geht auf Kosten der eigenen Energiespeicher. Um diese wieder auffüllen zu können, bedarf es einer Reduktion der Reize von außen.

Die Einflüsse von anderen Menschen müssen eine Zeit lang ausgeschaltet werden. Am effizientesten gelingt das beim Rückzug in die Natur. Die Wohnung ein paar Stunden für sich allein zu haben, wirkt ebenfalls ausgleichend.

Wesentlich ist vor allem unsere Einstellung, unsere innere Haltung dem Alleinsein gegenüber – und daran lässt sich arbeiten. Nutzen wir diese Zeit als Quelle neuer Kraft und Nährboden unserer Kreativität. Gönnen wir uns die Langeweile. Genießen wir die Zeit, die wir für uns selbst haben.

Dieser Artikel stammt aus der ICH BIN, das noch viele weitere tolle Themen für Euch bereithält.

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Bildquellen: Photo by Julia Caesar on Unsplash