Menschen erzählen Märchen, Märchen erzählen Menschen. Sie bleiben lebendig durch Variation und Durchmischung – wie eine universale Sprache mit vielen Dialekten. Einst nur mündlich weitergegeben, haben sie mittlerweile die Kinoleinwand erobert. Überraschend und verblüffend überwinden sie dabei die Grenzen der Realität und bieten Raum und Zeit für fabelhafte Metamorphosen, fantastische Zauberwesen und seltsame Helden.

Man muss kein Kind sein, um Märchen zu lieben. Aber womöglich liegen die Wurzeln für die Märchenliebe in der Kindheit. Der Mensch wird in die Realität geboren, doch die ersten Geschichten, die ihn erreichen, handeln von Prinzessinnen und verwunschenen Brunnen, von missgünstigen Stiefmüttern und bösen Wölfen und vom guten Ende, das auf die durchgestandenen Irrungen und Wirrungen gemeinhin folgt.

Es ist erstaunlich, aber Kinder werden dieser Geschichten nicht überdrüssig und auch ich konnte meine Märchenschallplatten wenden wie einen Pfannkuchen, Stunde um Stunde; ich kannte keine Langeweile. Es war die Vertrautheit der Stimmen, die Gewissheit über die Abfolge der Ereignisse, die einen Palast schufen, einen Raum fernab der alltäglichen Regeln, besiedelt mit Figuren, die man auf dem Weg zum Kindergarten nie auf der Straße traf, die aber dennoch existierten, an einem unsichtbaren Ort. Weniger ging es um Spannung oder ein überraschendes Ende, es ging um die Bilder, die auftauchten und die bis heute als Gefühl aufflammen.

Erstaunlich, wie kurz die Märchen aus Sicht eines Erwachsenen sind. Sie scheinen, auch in ihrer Mächtigkeit und gelegentlichen Bedrohung, geschrumpft zu sein. Hörte man sie zum ersten Mal, hätten sie wohl kaum dieselbe, verzaubernde Wirkung – aber wem sie vertraut sind, dem eröffnen sie, wie ein Zauberwort, den Berg Sesam wieder.

Tropfe und Taugenichtse

Es war einmal die Bauerntochter, es war einmal der Fischerssohn, es war einmal der Müllersbursche … Es waren einmal Arme, für dumm Gehaltene, Schwache, Ausgestoßene, Verkannte, Verwunschene. Sie bestehen im Märchen mit Witz, Willen und Mut Prüfungen und finden ihr Glück. Es sind gerade die, von denen keiner Heldentum vermutet, die im Märchen zu Helden gekürt werden. Die Letztgeborenen, die Waisen, die Findelkinder – die, die nichts haben, außer ihrer Courage und dem Stern, unter dem sie geboren sind, gehen mutig los, ohne sich umzuschauen.

Sie fragen den grimmigen Herrscher nicht, ob es das Wasser des Lebens, den Feuervogel oder die drei goldenen Haare des Teufels überhaupt gibt. Wissen nicht, wo das Land Längemalbreitemalhöhe liegt. Sie zweifeln nicht, sondern sie gehen los. Kennen das Sprüchlein, sie sind am Sonntag geboren, und wissen, wie man mit und ohne Geschenk, nicht geritten, nicht gegangen und nicht gefahren, nicht angezogen und nicht nackend ans Ziel kommt. Sie, die Unterschätzten, schillern, indem sie sich dem Schrecklichsten und Mächtigsten stellen: Der Angst mit all ihren Fratzen. Tod und Teufel, Einsamkeit und Verlust, tiefe Nacht und hoher Berg, hutzelige Zauberzwerge und rachsüchtige Göttinnen werden besiegt vom kleinen, seltsamen Helden, der im Grunde nur eines tut: loslaufen.

„Märchen erweitern die Welt um das Unmögliche. Sie versehen die Realität mit Fantasie. “

Das Unerhörte im Märchen liegt in der Überwindung bestehender Grenzen. Tiere verwandeln sich in Menschen. Tote erwachen zum Leben. Pflanzen sprechen. Sterne fallen vom Himmel. Erdbeeren wachsen im Schnee. Schlüsselblumen öffnen die Pforte zum Himmel. Schweinehirten heiraten Blütenkaiserinnen. Herrscher laufen nackt auf der Parade. Märchen leben von ihren Extremen. Das Schöne braucht das Hässliche, das Fleißige das Faule, das Reiche das Arme, sonst wird kein gläserner Schuh daraus. Im Märchen hat alles seine Berechtigung und seinen Platz.

Gut und Böse im Märchen

Aktuelle Debatten hinterfragen den pädagogischen Wert von Märchen und die Stereotype, die dargestellt werden. Aus der heutigen aufgeklärten Sicht ist eine Hexe bestenfalls ein finster-romantisches Fabelwesen. – Im Mittelalter wurde dieses Feindbild Tausenden Frauen zum Verhängnis. Brave Töchter, die durch bloßen Liebreiz, Anmut und Anstelligkeit zu guten Frauen gestempelt werden, regen den Protest aus feministischen Kreisen an.

Aber was ist mit Baba Jaga, die allein im Kreise ihrer Tiere im Wald wohnt, das Herz am rechten Fleck und ihre Spleens hat? Eine durchgeknallte, eigensinnige Individualistin in einem Haus auf Hühnerbeinen? Oder das Mädchen, das sich in Männerkleidern beim Emir verdingt, um die Stelle seines Vaters einzunehmen? Die kluge Bauerntochter, die sich mit Liebe und Witz ihren König gewinnt. Oder dem persischen Recken, der von einem Zauberbrunnen trinkt, sein Geschlecht ändert und fürderhin als Frau lebt?

„Es sind gerade die, von denen keiner Heldentum vermutet, die im Märchen zu Helden werden.“

Dem Märchen ist nichts Menschliches fremd und sein Spektrum schier unermesslich. Es gibt die komischen, die tragischen, die traurigen, die romantischen, die schaurigen und die Märchen mit Zuckerguss.
Trotz der polarisierenden, plattitüden Aufstellung von Gut gegen Böse empfand ich immer auch Mitleid mit den Bösewichten. Ich fand es fair und logisch, dass die Großmutter, das Rotkäppchen und die Geißlein heimlich aus dem Wolfsbauch herausgeschnitten werden mussten. – Sie waren schließlich unfreiwillig (und bei lebendigem Leib, wie unangenehm!) darin verschwunden. Aber dem Wolf stattdessen hinterlistig Wackersteine hinein zu nähen und ihn dann im Brunnen ersaufen zu lassen? Das kleckerte in meinen Augen ziemlich viel schwarze Schuld auf die weiße Weste der vermeintlich Guten.

Auch, dass Hänsel und Gretel die Hexe jämmerlich brieten, ließ das Geschwisterpaar in meinen Augen keinen Deut besser erscheinen als die Hexe selbst. Zudem erschien es mir nicht weiter verwunderlich, dass jemand, der seine Jahre in einem überzuckerten Lebkuchenhaus verbrachte, auch mal Appetit auf etwas Herzhaftes hatte.

Höchst fragwürdig erscheint mir heute die Tatsache, dass Hänsel und Gretel den Rückweg nach Hause antreten. Wer verlässt schon freiwillig ein leer stehendes Lebkuchenhaus, um zu einem Heim zurückzukehren, aus dem man verstoßen worden war? Die lückenhafte Logik wird den Märchen verziehen, weil sie einen hohen Unterhaltungswert haben. Über den Verstand irritierende Rätsel tröstet hinweg, dass am Ende alles gut ist. Und wenn sie nicht gestorben sind – ja, auch das liegt im Bereich des märchenhaft Möglichen – leben sie noch heute.

Zauber über Zauber

Märchen erweitern die Welt um das unmöglich Mögliche. Sie versehen die Realität mit einem fantastischen Mehrwert. Sie erinnern an das Wilde, das Verborgene, das Mächtige, das Weise, das in den Dingen zu schlummern scheint, wo kein Messgerät es aufspüren kann. Es ist nicht beim Blick durch die Lupe zu erspähen. Man kann es nur fühlen, immer im Ungewissen, ob es womöglich nur dadurch existiert. Der Blick in das Märchen ist ein Blick in den Menschen. In seine Träume, seine Ängste, seine Fantasien, seine Sehnsüchte, seine Erfahrungen, seine Geschichte, seine Kultur, seine ganze Seele.

Menschen, die Märchen erzählen, führen uns in ihre ganz persönlichen Visionen und Abgründe. Sie geben eine Geschichte, die aus einem uralten Geschichten-Ozean an sie herangespült wurde, auf ihre ganz eigene Art und Weise weiter. Im Moment der Weitergabe stoßen sie die nächste Welle an. Erzählen ist eine Philosophie. Sie macht den Erzählenden als auch den Zuhörenden klüger – auf jede erdenkliche Art.

„Weniger ging es um Spannung oder ein überraschendes Ende, es ging um die Bilder, die auftauchten und die bis heute als Gefühl aufflammen.“

Mein Vater liebte es, mich mit Märchen zum Schaudern zu bringen. Am besten machte sich das beim Zelten, wenn es um die dünnwandige Behausung herum knackte und knisterte. Ich weiß nicht, warum ich sie fürchtete: Die Kobolde und Geister, die Zwerge und sprechenden Tiere. Märchen hüteten den Zauber der Wälder, der Berge, des Meeres und die Unantastbarkeit des Andersartigen. Sie beseelten all die Dinge um uns herum.

Heute fehlen sie mir. Ich vermisse die Nixen und die Hirsche mit dem goldenen Geweih, die sprechenden Vögel und die untergegangenen Städte. Die Welt ist vermessen. Aber zum Glück gibt es ja noch die alten Märchenschallplatten. Die mit den kratzenden Nadeln und den Sprüngen an den altvertrauten Stellen. Es war einmal …

Dieser Atikel stammt aus dem AUSZEIT-Magazin, das noch viele weitere Themen für euch bereithält.

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