Wir Menschen verfügen über eine wahnsinnig facettenreiche Gefühlspalette. Sie reicht von himmelhochjauchzend bis zu tode betrübt. Und mittendrin, irgendwo dazwischen, sitzen die Schuldgefühle, die sprichtwörtlich so gern an uns nagen. Sie sind präsent und stark. Und sie schwächen uns, wenn wir nicht verzeihen.

Wir alle kennen sie. Schuldgefühle. Und wir alle wissen, dass diese Gefühle sehr quälend sein können. So quälend, dass so manch einer sogar daran zerbricht. Niemand kann ihnen entkommen, denn wir alle machen Fehler. Große und kleine. Fehler, die das eigene Leben drastisch verändern. Und auch das Leben anderer. Fehler, die wir machten, weil wir eben Lernende sind. Und Fehler, die in Wahrheit gar keine Fehler waren, sondern einfach nur eine Aneinanderreihung unglücklicher Umstände.

Und dennoch fühlen wir uns schuldig. Selbst dann, wenn andere Menschen uns sagen, dass es nicht unsere Schuld war. Letztendlich zählt das, was wir fühlen. Und wenn wir uns schuldig fühlen, dann ist das ein sehr starkes Gefühl, das wir mitunter jahrelang, wenn nicht sogar ein Leben lang, mit uns rumtragen.

Aufladen von Schuld

Oft laden wir uns Schuldgefühle selber auf. Dann hadern wir mit gemachten Entscheidungen, bereuen unsere Handlungen oder bedauern unsere Worte. Wir alle entwickeln uns weiter und so kommt es immer wieder vor, dass wir uns mit unserer Vergangenheit und den damit zusammenhängenden Entscheidungen, Handlungen oder Worten nicht mehr so richtig identifizieren können, weil wir heute anders mit der Sache umgehen würden.

„Oft laden wir uns Schuldgefühle selber auf. Dann hadern wir mit gemachten Entscheidungen, bereuen unsere Handlungen oder Worte.“

Vielleicht haben wir mittlerweile Eigenschaften dazugewonnen, die uns heute helfen, in gewissen Situationen ruhiger, gelassener oder fairer zu bleiben. Vielleicht haben wir mittlerweile Erkenntnisse bekommen, die uns heute helfen, ein Problem freundlich und friedlich aus dem Weg zu räumen. Oder wir haben mittlerweile einfach Erfahrungen gemacht, die uns dem Leben gegenüber demütig und dankbar werden ließen, sodass wir heute aus einem ganz anderen Blickwinkel auf die Dinge schauen.

Und vielleicht mag sich da dann der ein oder andere Gedanke in unseren Kopf schleichen wie zum Beispiel „Hätte ich doch mal nicht…“, „Wie konnte ich diesem lieben Menschen das nur antun?“ oder „Wie konnte das alles nur passieren?“ Und wenn diese Gedanken erst einmal geboren sind, werden wir sie nur schlecht wieder los. Genau wie diese Schuldgefühle.

Wir sind Lernende

Wir dürfen nie vergessen, dass wir Lernende sind. Unser ganzes Leben ist eine steile Lernkurve nach oben. Sie beginnt mit unserem ersten und endet mit unserem letzten Atemzug. Es gibt keine Zeit dazwischen, in der wir nicht lernen. Wir lernen immer. Über viele viele Jahre hinweg. Ob bewusst oder unbewusst. Wir sind Lernende. Und deswegen ist es das Natürlichste auf der Welt, dass wir uns weiterentwickeln. Heute schon sind wir nicht mehr die, die wir gestern waren. Und erst recht sind wir morgen nicht mehr die, die wir vor fünf Jahren waren.

„Anderen gestehen wir Fehler zu, uns nicht. doch Auch wir selbst dürfen es uns wert sein, nicht perfekt sein zu müssen. Das entlastet ungemein.“

Vielleicht gibt es Eigenschaften, die immer bleiben. Doch auch diese werden sich sicherlich immer wieder ein wenig verändern – wenn auch nur in kleinen Nuancen. Das Leben ist Veränderung. Nichts bleibt, wie es ist. Wie sollten wir dann immer gleich bleiben? Das ist unmöglich und wäre auch unnatürlich. Und, wie heißt es so schön? Aus Fehlern lernen wir am meisten. Wer wären wir ohne unsere Fehlerchen? Deswegen sollten und dürfen wir all diese Veränderungen, die uns im Laufe unseres Lebens begegnen, begrüßen, uns verzeihen, denn sie zeigen uns, dass wir mitten drin stecken im Leben. Und wenn uns dies bewusst ist, dann wird uns auch klar, dass es völlig natürlich und normal ist, dass wir heute nicht mehr alles so machen würden wie früher.

Heute würden wir vielleicht andere Entscheidungen treffen, andere Worte wählen oder auch völlig anders handeln, weil wir seither Vieles dazugelernt haben. Wichtig ist, dass wir es uns erstens erlauben, uns zu verändern, und uns zweitens zugestehen, die Dinge anders zu machen als früher. Das bedeutet auch, dass wir mit einem gnädigen und liebevollen Blick auf unser altes Ich zurückblicken dürfen. Vielleicht sogar mit einem Schmunzeln auf den Lippen, weil wir damals unerfahren waren und eben Fehler machten. Diese Fehler dürfen wir uns auch zugestehen, uns verzeihen, weil sie zu unserer natürlichen Entwicklung dazugehören. Wie schön, dass wir uns entwickeln.

Verzeihen – Sei nicht so streng

Mit persönlich helfen diese Gedanken, wenn Schuldgefühle aus vergangenen Zeiten angeflogen kommen. Dann erinnere ich mich daran, dass ich mich wunderbar entwickelt habe und natürlich auch weiter entwickeln werde und dass ich wahrlich dankbar und froh bin, diese Entwicklung so erleben zu dürfen.

Ich glaube, es ist eine gute Sache, wenn wir es uns erlauben, Lernende zu sein. Denn das bedeutet auch, dass wir es uns erlauben, Fehler zu machen. Und das wiederum befähigt uns, für uns selbst einfach mal ein Auge zuzudrücken, anstatt immer nur für Andere. Für andere Menschen lassen wir schneller mal Fünf gerade sein. Für uns selbst fällt uns das schwer. Anderen gestehen wir kleine oder auch mal größere Fehler zu, uns selbst jedoch nicht. Und genau da dürfen wir ansetzen. Auch wir selbst dürfen es uns wert sein, nicht perfekt sein zu müssen. Dürfen uns selbst verzeihen. Das entlastet ungemein.

Zum Gedanken anregen
Was wäre, wenn wir uns schuldig fühlen und uns dabei eigentlich gewaltig irren?
Wenn die Dinge oft gar nicht so sind, wie sie scheinen?
Was, wenn unsere Annahmen und Interpretationen sich der Wahrheit nicht einmal annähern? Oder unser menschlicher Verstand das große Ganze oft gar nicht erfassen kann?
Was wäre, wenn wir immer nur einen winzig kleinen Teil sehen?
Wenn unsere Gedanken und Mutmaßungen oft in die falsche Richtung galoppieren?
Gäbe es dann überhaupt Schuld?
Würden wir dann wirklich wissen, wann wir schuldig sind?
Wann andere schuldig sind?
Was, wenn es gar keine Schuld gäbe; einfach deswegen, weil es Dinge gibt, die wir nicht wissen oder sehen?

Unverzeihliches?

Manchmal sind es vergangene Worte oder Handlungen, die Schuldgefühle in uns auslösen. Da mag es helfen, sich vor Augen zu führen, dass wir Lernende sind. Doch es gibt natürlich auch Dinge, von denen wir glauben, sie uns nie verzeihen zu können. Zum Beispiel dann, wenn durch uns ein Mensch schwer verletzt wurde. Oder wenn wir etwas nicht verhindern konnten, weil wir eine Minute zu spät vor Ort waren. Oder wenn wir andere Dinge im Kopf hatten und nicht bemerkten, dass es da einen Menschen gab, der unsere Hilfe gebraucht hätte.

Das sind Dinge, die ganz tief gehen und uns ein Leben lang nicht loslassen. Ganz oft hängen diese Situationen mit dem Worte „hätte“ zusammen. „Hätte ich mal nicht noch eine Minute auf mein Handy geguckt, anstatt los zu gehen“, „Hätte ich mal nicht die Abkürzung genommen“, „Hätte ich mal richtig zugehört…“.

„Wenn es uns nicht gelingen mag, Schuldgefühle loszulassen, dann haben wir noch die Möglichkeit, sie einfach da sein zu lassen.“

Das Wort „hätte“ lädt uns ganz viel Schuld auf die Schultern, weil wir in diesem Moment glauben, dass wir das Schicksal beeinflusst oder sogar geschrieben hätten. Wir glauben, dass wir es hätten verhindern können. Und deswegen glauben wir, dass wir Schuld seien. Obwohl es vielleicht ganz anders ist, als wir denken. Vielleicht konnte es gar nicht anders sein, weil es genau so vorgesehen war. Vielleicht war dieses Ereignis genau so, wie es war, absolut richtig und wichtig, weil alle Personen, die damit konfrontiert waren, dadurch wichtige Dinge lernen und neue Kräfte entwickeln konnten.

Und wenn wir uns dann bewusst machen, dass es ganz viele kleine Momente gab, die diese eine augenscheinlich unverzeihliche Situation gebaren, dann können wir auch sehen, dass es tatsächlich ganz viele Umstände brauchte, sodass diese Situation überhaupt entstehen konnte. Und dann sehen wir, dass wir nur einen winzig kleinen Teil dazu beigetragen haben, dass es so kam, wie es eben kam.

Es ist, wie es ist

Wenn es uns nicht gelingen mag, Schuldgefühle loszulassen, dann haben wir noch die Möglichkeit, sie einfach da sein zu lassen. Dann können wir sie als ein Teil unseres Lebens annehmen. Dabei wäre es wichtig zu erkennen, dass sie ein Puzzleteil unter vielen sind, die das Bild unseres Lebens vervollständigen. Denn das hilft uns, uns zu verzeihen und neben den Schuldgefühlen auch all das Wundervolle zu sehen, dass das Leben für uns bereithält. Denn das gibt es auch. Immer. So gelingt es uns vielleicht, den inneren Kampf gegen das Unverzeihliche zu beruhigen, sodass ein Leben in Freude wieder möglich wird.

Wunderbares Leben

Stell dir vor, du sitzt am Sterbebett eines alten Menschen, der ein glückliches und erfülltes Leben hinter sich hat. Ein Leben voller Höhen und Tiefen. Ein Leben, das wirklich gelebt wurde – voller Hingabe und Leidenschaft. Was würde dieser Mensch dir antworten, wenn du ihn fragen würdest, wie du deine Schuldgefühle loslassen oder zumindest „da sein lassen kannst“ – dir verzeihen kannst, ohne daran zu zerbrechen?

Wenn du magst, nimm diese Übung mit in deinen Alltag. Vielleicht möchtest du vorher eine kleine Stille-Meditation machen, indem du einfach mal für ein paar Minuten deine Gedanken ziehen lässt, bis du dich in dir zentriert fühlst. Gerne kannst du dir auch ein Blatt Papier und einen Stift bereit legen und die Antwort dieses alten Menschen schriftlich notieren. Du wirst dich vielleicht wundern, welche Botschaften für dich bereit stehen. Und wer weiß, vielleicht betrachtest du das Thema mit den Schuldgefühlen dann auch aus ganz anderen Augen.

Übung
Schließe deine Augen und wandere gedanklich durch deinen ganzen Körper.
Setzte dir die Intention, genau die Stelle in deinem Körper zu finden, wo deine Schuldgefühle vergangener Ereignisse abgespeichert sind. Vielleicht fühlt sich diese Stelle blockiert, dunkler oder schwerer an.
Wenn du fündig geworden bist, frage deinen Körper, was er braucht, um diese Schuldgefühle loszulassen. Vielleicht sind es bestimmte Gefühle, um die dein Körper bittet.
Dann lass genau diese Gefühle gedanklich an diese Stelle in deinen Körper fließen, bis du das Gefühl hast, dass dieser Vorgang abgeschlossen ist. Vielleicht bittet dein Körper aber auch um ganz bestimmte Dinge, die du selbst anschließend ausführen kannst, zum  Beispiel einen Brief schreiben.
Du wirst merken, dass sich an dieser Körperstelle, wo zuvor die Schuldgefühle saßen, etwas verändert hat. Spüre hinein, was genau sich verändert hat. Und wenn du magst, wiederhole diese Übung bei Bedarf.

Dieser Artikel zum Thema Verzeihen stammt aus dem AUSZEIT-Magazin, das noch viele weitere tolle Themen für Euch bereithält.

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Bildquellen: © Photo by Cristina Gottardi on Unsplash