Seine Arme sind kalt. KALT. Oh Gott! was mache ich hier! Ich bin allein. Allein mit meinem Schmerz. Allein mit ihm. Einsam und traurig.

Eine Träne rinnt mir langsam über meine Wange. Ich genieße die salzige Wärme auf meiner Haut. Möchte noch mehr Tränen weinen. Ich sehne mich nach ihrer Wärme. Denn mir ist kalt. Mein Herz ist ein von Kummer getrübter Eisblock, der nach und nach Besitz von meinem ganzen Körper ergreift. Dabei ist schon April. Die ersten warmen Sonnenstrahlen habe ich schon genossen. Gestern haben wir gegrillt, ein langes Wochenende eingeläutet. Mein Weg aus dem Westen Deutschlands in die kleine Stadt an der Grenze zu Polen war weit.

Ich hatte Stau, wie immer. Ich fahre ihn regelmäßig, seit ich Vater bin. Jedes Wochenende, 500-700 km. Ein Weg! Aber das gehört nicht hierher. Meine Gedanken gleiten immer wieder in andere Schubladen auf der Suche nach etwas, an dem sie sich festhalten können. Geanken brauchen Beständigkeit, ein gutes Maß an Ordnung. Doch die Welt ist aus den Fugen geraten. Gestern schon – als ich es noch nicht wußte, wohl aber ahnte. Abends tobte ein Sturm. Er rüttelte am Fenster des kleinen Hauses in der Stadt, nachts heulte er um die ungedämmten Ecken des Hauses. Ich habe mich in meine Decke gekuschelt, konnte aber nicht schlafen. Etwas ist anders. Ich habe es gespürt und ich erinnere mich noch heute daran: Der Sturm brachte nicht nur die Kälte des Winters zurück. Der Wind hat geweint, ich wusste es.

In seinen Armen

Seine Arme sind so kalt. Ich verstehe das nicht. Sie sollten warm sein. In diesen Armen habe ich oft gelegen. Sie waren stark, mit Händen voller Liebe und Hingabe. Er liebte mich, schon immer, seit ich denken kann. Er war da für mich, meine Fragen an die Welt und auch manches Mal, als ich dann älter und wirrer im Kopf wurde und mich selbst in Frage stellte.

Dann kam der Anruf, es war noch früh, sehr früh. „Komm schnell“ hat mir meine Mutter gesagt. Dann bin ich gefahren. Ich bin sehr schnell gefahren. So viel weiß ich noch. Jetzt bin ich da.

Warum ist er nur so kalt? Ich verstehe das nicht. Er war immer so voller Leben. Es war ein bescheidenes Leben, ein ganz normales Leben, eines, das für mich so wichtig war. Ich erinnere mich noch genau daran, als ich an einem der vielen Wochenende bei ihm und ihr war und er mir wieder einmal das Malen beibringen wollte – in seinem Atelier, das immer nach Firnis und Ölfarben roch. An den Wänden wunderschöne Bilder, unerreichbare Kunst. Er – mit Kittel, Farbpalette und Stock vor seiner Staffelei, führte zarte Pinselstriche auf der Leinwand. Abends dann mit ihm und ihr Fußball auf der Couch schauen. Mit Farbfernseher und Erdnussflips. Im Ofen flackert ein wärmendes Feuer.

Geschlafen habe ich „im großen Bett“, morgens Schlachten mit Elektrosicherungen und Pappkartons geschlagen. Es war schön. Ich wollte auch so malen wie er, habe das aber nie geschafft. Ich war zu ungeduldig – immer, wenn etwas nicht gleich „ganz gut“ funktionierte, habe ich es gelassen. Warum auch Zeit investieren, wenn es so viele andere Sachen zu entdecken gibt? Geduld ist nicht meine Stärke. Dabei hat er hat immer versucht zu zeigen, dass die Dinge ihre Zeit brauchen – und das es auch gut so ist.

Einsam und traurig

Ich beuge mich nach vorn und streiche ihm eine silbrige Haarsträhne aus dem Gesicht. Er kann ja gar nichts sehen, wenn die Haare so über sein Gesicht fallen! Auch seine Wangen sind kalt, seine Stirn. Ich habe eine Schere mitgebracht und eine kleine Fotodose, in der wir „damals“ noch die analogen Filmstreifen eines 36er Films aufbewahrt haben. Erinnerungen eben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das tun soll, dann nehme ich die Silberlocke doch und schneide sie ein Stück kürzer – er braucht sie jetzt nicht mehr – außerdem hätten die Haare sowieso geschnitten werden müssen – Künstler tragen das Haar oft ein wenig wirr.  Es riecht nach Birkenwasser. Wie immer eigentlich. Er hat das geliebt – „Das macht die Kopfhaut jünger.“ – hat er immer gesagt. Mir war dieser Geruch immer vertraut.

Die Sonne geht langsam unter. Vor mir brennt eine Kerze. Ich nehme sie jetzt erst im trüben Abendlicht wahr. Wie viel Zeit mag wohl vergangen sein? Die Zeit biegt sich um mich herum, ich bin verwirrt, wehrlos, schutzlos. Das Licht flackert. Ein leichter Luftzug. Es tanzt hin und her, ein wenig Anmut und Zufall in der kalten Tristess des Abschieds. Vorsichtig greifen zwei Hände nach mir. „Sie haben mein Klopfen nicht gehört.“. Die Hände ziehen mich sanft hinaus. „Es ist Zeit.“. Ich sitze am Bettrand. „Zeit zu gehen.“. Ich verstehe das nicht. Wohin? Ich bin doch eben erst gekommen. Die Zeit vergeht. Sie vergeht so schnell. Und dabei habe ich mich doch so beeilt!

Abschied 

Ich verlasse das Abschiedszimmer in einem Merseburger Krankenhaus und blicke ein letztes Mal auf meinen Opa. Mein Herz brennt und ich leide. Da war doch noch so viel, was ich lernen wollte. Malen. Vergangenheit. Loslassen. Ich bin noch nicht soweit. Ich merke das. Ihn aus dieser Welt gehen zu lassen, fällt mir unendlich schwer. Meine Finger krampfen sich um die kleine Fotodose, die zwei Hände schieben mich sanft aber bestimmt aus dem Zimmer hinaus. 

Wenn ich heute die Bilder in meinem Haus betrachte, sehe ich ihn an seiner Staffelei stehen. Er lächelt und malt mir mein „Selbst“portrait, das ich in der achten Klasse im Kunstunterricht als Heimarbeit aus- und abgegeben habe. Benotet mit einer „4“ – und dem Kommentar: „Wunderschön aber nicht von dir“. Nein – zum Malen hat es bei mir nicht gereicht. Noch heute kaufe mir manchmal das Birkenhaarwasser im Rossmann. Ich brauche keins, aber es tut gut, wenn es einfach nur dasteht und ein wenig duftet. Ich mag den Geruch. Er ist mir vertraut. Und manchmal reibe ich mir verstohlen meine Kopfhaut damit ein. Wenn mich meine Kinder dann erwischen, sage ich ihnen, dass das Birkenhaarwasser die Kopfhaut jünger macht. Sie nicken wissend.

Diese Geschichte stammt aus dem Auszeit Kalender 2019, der noch weitere ganz persönliche Geschichten für dich bereithält.

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