Wenn wir unsere Kinder in ihr eigenes Leben loslassen, ist das für uns meist eine sehr schmerzvolle Erfahrung. Kaum eine Sache in unserem Leben tut so weh, wie die eigenen Kinder aus dem sicheren Nest gehen zu sehen. Wir fragen uns, ob wir alles richtig gemacht haben, wir fragen uns, was für uns nun noch kommen mag nach dieser langen und wunderschönen Zeit. Das alles macht es nicht einfacher, deine Kinder gehen zu lassen – in ihre eigene Welt, in ihr eigenes Leben.

Dieser Beitrag soll dir Hoffnung schenken. Denn auch dem Leben der Eltern eröffnen sich mit diesem Abschied neue Wege. Indem wir annehmen, was unvermeidbar ist, schaffen wir die Grundlage, dass alle, das alles gerne wieder zu uns zurückkehrt und dieser Abschied nur ein Abschied auf Zeit ist. Dann werden wir uns wiedersehen, mit neuen Erfahrungen, Ideen vom Leben und Konzepten, die auch unser Sein wertvoller machen. 

In meinem sehr persönlichen Beitrag liest du:

  • Warum dieser Abschied ein neuer Anfang ist
  • Warum das Loslassen deiner Kinder für beide wichtig ist: Eltern und Kind
  • Was nun „nach den Kindern“ kommt
  • Ob Loslassen immer so weh tut und was du dagegen tun kannst
  • Mit welchen persönlichen Tipps du besser durch diese schwierige Zeit kommst. 

Wenn die Kinder plötzlich groß sind

Immer wenn es „pling“ macht und ich dann auf mein Handy schaue, wird mir ein „Neuer Rückblick“ angeboten: „Kinder im Laufe der Jahre“ oder „An diesem Tag in 2011“. Ich habe diese Nachrichten lange ignoriert, habe sie weggeklickt. Keine Zeit für die Vergangenheit, zu viel passierte im „Hier und Jetzt“, zu viel wollte stets für ein gutes „Morgen“ geplant sein.

Doch meine Welt ändert sich gerade. Ich schaue mir diese Fotos nun immer öfter an, lausche der Musik, oft sind sogar auch ein paar Videos von „früher“ dabei. Manchmal, wenn ich mir diese Erinnerungen so anschaue, stiehlt sich eine Träne aus meinem Herzen auf meine Wange. Der Weg ist bei mir nicht lang, so dass ehrlich gesagt langsam aus dem „manchmal“ ein „immer öfter“ wird.

Mein Leben ändert sich. Tiefgreifend.

Ich weiß nicht mehr genau, wann es passiert ist. Ich weiß nur, dass es passiert ist. Irgendwie. Irgendwann. In mir, mit mir. Ich kann es noch immer nicht richtig fassen. Aber es ist passiert.  Wenn ich so zurückschaue, weiß ich, dass es schon während der letzten Jahre begann. So richtig bemerkt habe ich es aber erst irgendwann während der letzten Monate. 

Ich weiß, es klingt verrückt, aber an irgendeinem der letzten 180 Tage bin ich aufgestanden und plötzlich waren meine Kinder groß.

Und auf einmal fühlt sich mein Leben nach Abschied an. Ein Abschied von einer langen Lebensphase, in der ich einfach Vater sein durfte. Es ist nichts endgültiges, es ist mehr ein Prozess, etwas lebendiges. Ich merke, ich fühle ihn – mal mehr, mal weniger. Ich habe das lange ignoriert, besser: versucht zu ignorieren. Doch es ist wie beim Zahnarzt: Das erste Pochen im Zahn kommt sporadisch und wir tun es ab, weil es schon wenige Tage nach dem ersten Anklopfen nicht mehr da ist. Wir wissen es zwar besser, wir wissen, dass wir besser darauf hören und einen Termin beim Arzt vereinbaren. Aber dennoch sagen wir uns, dass „vielleicht ja doch nichts ist“ und wir das noch ein wenig schieben können. Doch es wird meist nicht besser. Es tut nur noch mehr weh und spätestens auf dem Liegestuhl beim Bohren wünsche ich mir dann, doch früher auf die Signale meines Körpers gehört zu haben. 

So ist es auch jetzt: der Abschied kommt.

Unausweichlich und unaufhaltsam. Es ist ein harter Abschied, weil es einer ist, den ich nun mit jedem verdammten Tag näher kommen sehe. Mir war das lange tatsächlich nicht bewusst, aber seit einer Weile habe ich auch einfach nur nicht so genau hinsehen wollen, obwohl das Pochen langsam zu einem permanenten Begleiter mutierte, der verschiedenste Formen annahm: Knallende Türen, lautstarke Emotions-Explosionen über oder auch leise „Hmm“s oder „Normals“ auf interessierte, typisch-einfache Eltern-Fragen wie: „Und, wie war Englisch?“. Es tut weh, wenn du von deinem Kind statt des gewohnten, fröhlichen und kaum enden wollenden Tagesberichts nur noch ein gequetschtes „Hallo“ auf dem Weg in das eigene Zimmer hörst. Und selbst das fühlt sich eher wie „Lass mich in Ruhe“ und nicht „Schön dich zu sehen“ an. Ich weiß: Das alles gehört dazu, zu diesem Abschied. Das muss sein. Es muss weh tun. Denn Kinder wollen auch gehen gelassen werden. Ich lerne das gerade. Und ich kann sagen, dass mich dieser Prozess ganz schön mitnimmt. Im Herzen. 

Loslassen beginnt mit Veränderung

Ein guter Gradmesser für die Sichtbarkeit von Veränderung sind stets die kleinen Dinge, die sich auch in diesem Fall in meinem Leben neu sortieren, anders sind oder werden. Zum Beispiel der „Klingel-Reaktions-Index“. Während noch gefühlt gestern meine Kinder darum kämpften, als erste die Türe bei einem Läuten zu öffnen, würde der Postbote samt Paket heute vor dem Haus verhungern, wenn er auf sie warten würde. „Damals“ hatte ich auch das Gefühl, ich brauche vier Ohren um all das hören zu können, was mir meine Kinder von ihrem Tag erzählten. Heute schrumpft die dafür nötige Anzahl genauso rasant, wie sie einst mit dem Erlernen der ersten Worte plötzlich nötig wurde. Es wird also wieder leiser in meinem Leben. Plötzlich habe ich mehr Zeit – Zeit, auch auf andere Dinge zu hören, die da noch auf mich warten oder schon lange gewartet haben. 

Das klingt toll. Ist es auch, ehrlich. Aber so „plötzlich“ weiß ich noch gar nicht so recht, etwas mit diesen neuen Freiheiten anzufangen. Deswegen lese ich abends jetzt lieber eine Geschichte mehr als eine weniger für unser verbliebenes „Küken“. Wir spielen mehr zusammen, machen alles irgendwie „länger“. Das tut gut, das lenkt ab. Denn ich bin gerne hier und möchte genau hier auch noch ein wenig bleiben. Nur so für mich. Es ist irgendwie so, als ob ich die Suche nach dem ruhigen Auge des Orkans aufgegeben habe und mich wieder nach der windreichen Kraft und Stärke des äußeren Chaos sehne. 

Ist das Leben ein ständiger Abschied

Wir haben einmal in Physik gelernt, dass die Zeit relativ ist. Wir müssten also „nur“ schneller sein als das Licht, um in die Vergangenheit zu reisen. Manchmal würde ich mir das wünschen. Noch einmal meinen Sohn in den Arm nehmen und sanft und in den Schlaf wiegen, noch einmal die ausgetretenen Betonstufen zur KiTa Sonnenstrahl mit Raupe und Laus hinauflaufen, den Geruch nach DDR in der Nase, das lärmende Kinder-Chaos begrüßen, das oft so penetrant durchsetzungsfähig gegenüber dem eigenen Nervenkostüm war wie Bohren beim Zahnarzt. Und dennoch: Ich vermisse die Kuhraketen, das enthusiastische Geschrei morgens in der Igel-Gruppe, den allgegenwärtigen Duft nach Calendula-Creme und Penaten-Puder am Wickeltisch, ja sogar das unsichere Herantasten an die Essenz der Schulgemeinschaft im Gewühl der Gänge während eines Herbstbasares, wo ich jahrelang immer mindestens zwei Kinder an der Hand hatte, von denen eins den Gang links, das andere den Gang nach rechts laufen wollte. Ich vermisse es, völlig fertig und zusammengerollt im Kinderbett neben einem der Kleinen einzuschlafen.

Ein riesengroßes Abenteuer

Damals war das Alltag. Normal irgendwie und gewiss nichts besonderes. Oft genug auch einfach nervig. Denn Zeit für mich blieb nur selten übrig an einem Tag, der turbulent begann und turbulent endete. In Teilen ist das heute noch so, aber es ist doch so anders. Während ich „damals“ Zahnputzlieder sang, Kindersachen rausgelegte oder bei den ersten Schnürsenkeln geholfen habe, geht es heute um nüchternen Rat bei den Vorprüfungen, der Berufswahl, die bequeme Fahrt zum Freund oder der Freundin –  und nur noch ganz selten um einen „echten“ Kindergeburtstag. 

Und so lebte ich quasi zeitlos irgendwo zwischen Windeln, den ersten Worten, Rubikon, Pubertät und Abitur ein riesengroßes Abenteuer. Auf dieser wilden Reise suchte ich oft nach freien Minuten (freie STUNDEN waren ein kaum möglicher Luxus), einem Innehalten, Ruhe – 10 tiefen Atemzügen nur für mich selbst. Den meisten Müttern und Vätern, die ich in dieser langen Zeit kennengelernt habe, ging es ähnlich: „Ruhe“ – Stille würde ich heute sagen, war kostbar, weil sehr selten. In den letzten Jahren trat langsam wieder mehr davon in mein Leben. Wieder, sozusagen. Denn es gab ja auch ein Leben vor den Kindern. Doch heute frage ich mich: 

  • Will ich sie JETZT noch, diese Stille? 

oder besser noch:

  • WAS will ich JETZT?

Mit mehr Ruhe – mit mehr Stille in unserem Leben haben wir auch immer mehr Gelegenheit auf uns selbst, sozusagen „in uns hinein“ zu hören. Das ist ein schwieriger Prozess. Denn wenn unsere Umwelt lange Zeit sehr laut gewesen ist, oft so laut, dass wir uns selbst kaum mehr hören konnten, fühlt sich die darauf folgende Stille plötzlich sehr schrill an. Intensiver und drängender als alle anderen Geräusche, die wir bislang gehört haben. Denn Stille können wir nicht einfach „ausstellen“, indem wir in einen anderen Raum gehen. Stille folgt uns, Stille fordert uns, Stille mahnt uns. 

Stille hilft uns. Stille ist da für uns. 

Die erste Frage, die uns diese klärende Stille stellt, ist, ob wir bereit für sie sind, ob wir sie willkommen heißen.

Denn erst dann können wir wirklich in uns hineinhören, in uns erforschen, was wir nun mit uns gegebenen Zeit neu beginnen wollen, wie wir diese Stille nutzen möchten.

Wenn wir etwas loslassen, ist es besonders schwer, in sich ein „Ja“ für diesen Prozess zu finden. Denn wir streben eher danach, an den Dingen, die wir kennen, unserem Alltag und auch den Menschen in unserem Leben festzuhalten. Doch wenn wir nicht loslassen, kann auch kein Raum für Neues entstehen. Weder für uns, noch für oder mit anderen Menschen oder Dingen.

Dann wandeln wir zwischen zwei Welten, unentschlossen ob wir es schon wagen, die Grenze zu der einen zu überschreiten, weil wir wissen, dass uns der Schritt in die eine den Zugang zur anderen kosten wird. Wir sind unentschlossen. 

Dabei kennst du diesen Schritt, du bist ihn schon oft gegangen. Vom Kind zum Jugendlichen zum Erwachsenen, zum Vater oder zur Mutter. Vom Beruf in die Berufung. Von der Arbeit in die Selbstständigkeit. Das alles sind Schritte, die du selbst gegangen bist. Ganz bewusst, oft freudig und erwartungsfroh die Vergangenheit hinter dir lassend.

Doch während dies alles deine Schritte gewesen sind, die du aus eigenem Antrieb oder schlicht zwangsläufig gegangen bist, weil sie Teil der persönlichen Entwicklung sind, treffen dieses Mal deine Kinder diese Entscheidung für dich. Denn die Frage ist seit ihrer Geburt nicht die nach dem „Ob“, es ist die Frage nach dem „Wann“ und vor allem dem „Wie“.

Sie ist so unausweichlich wie der stetige Rhythmus von Sonnenaufgang und -Untergang. Nur sehen wir sie nicht kommen. Oder besser gesagt: Wir wollen sie nicht sehen. Wir sehen die Zeichen, reden uns ein, wir hätten noch Zeit, aber wir haben keine Zeit.

Die Wahrheit ist: Das Leben als Vater oder Mutter ist ein stetiger Abschied. Ein Abschied, der mit einem neuen Leben beginnt. Ein neues Leben, dass wir ein großes Stück des Weges begleiten dürfen, mit dem wir das unsere ganz eng verknüpfen.

Und dann, ganz plötzlich nach 19, 20 Jahren steht er dann vor dir in der Tür, größer als du selbst, mit einem Rucksack auf dem Rücken:

„Tschüß Papa“, sagt er und ergänzt: „Ich bin dann Mittwoch wieder da“.

Und ich atme erleichtert auf, denn ich fürchtete, es wäre ein anderes, ein endgültigeres Tschüß.

Auch wenn meine Kinder noch bei mir, bei uns zu Hause leben, wir uns jeden Tag sehen und miteinander sein dürfen, spüre ich nun die Veränderung, merke ich, wie sich immer öfter die kalte Hand des Abschieds um Herz schließt und mir dann das Atmen schwer fällt.

Wenn die Kinder aus dem Haus gehen, müssen wir sie loslassen

Ich weiß, dass es bei diesem Prozess nicht „nur“ um die Kinder geht, nein, es ist eine lange Phase meines Lebens, die ich langsam loslasse, ohne zu wissen (und das wollen wir doch alle), wie ich die Leere füllen werde, die durch diesen Abschied entsteht, ob ich die Stille erst ertragen und dann willkommen heißen kann, die auf diesen folgt. Ein Prozess, der so weh tut, weil er so lange dauert. Weil wir uns in dieser wundervollen Zeit dieser langen Jahre so sehr aneinander gewöhnt haben und wirklich daran geglaubt haben, dass wir so ein Stück Ewigkeit kosten. Ein Traum, ein schöner, langer, bunter und wundervoller Traum.

Die eigenen Kinder loslassen ist doppeltes Loslassen

Deswegen ist dieser Abschied dabei besonders schwierig für uns. Er zerstört diesen Traum und er bringt ein doppeltes Loslassen in unser Leben. Denn wir haben zum einen weder die Kontrolle über den Verlauf und den Zeitpunkt des Abschieds und zum anderen werden wir auch noch selbst losgelassen.

Das ist unfaßbar schwer. Doch das ist ja Loslassen immer. Denn wenn der Moment kommt, in dem dir klar wird, dass sich dein Leben und die Art und Weise, wie du gelebt hast, ändern wird, fühlst du dich unsicher.

Ich stehe nun auf diesem Grat und wandle seit geraumer Zeit mit schwindender Sicherheit zwischen den Welten. Zwischen Festhalten wollen und Loslassen müssen. Oder zwischen Festhalten lassen und loslassen dürfen. Je nach Tagesform eben. 

Die Zeit dieser Krise, die Zeit des Einigelns in uns selbst, in der „echte“ Kontakte im Außen, wirklicher Austausch nicht mehr so einfach möglich ist, macht diesen Prozess nicht einfacher. Nicht nur für mich, sondern auch für meine Kinder. Denn während ich in ihrem Alter meine Welt entdeckten durfte, sehen sie viele Dinge heute nur mit Abstand und ohne die so wichtige Körperlichkeit. Die Umarmung, wenn man sich morgens in der Schule mit den Freunden begrüßt, abends ausgehen, Kneipe oder Disko (ich weiß gar nicht, ob das heute noch so heißt 🙂 – all das fehlt doch sehr. Und so finden sich meine Kinder ebenfalls im Wechselspiel zwischen Abschied und Neubeginn, nur dass dieser Abschied so anders ist, als er normalerweise sein sollte.

Die Kinder Loslassen bedeutetet Abschied und Neubeginn

Das führt zu Reibung. Mehr Reibung als dieser Abschied ohnehin schon erzeugt. Und Reibung führt bekanntermaßen zum Verlust von Energie. Diesen Energiemangel braucht es auch, damit sich das System, die Eltern-Kind-Beziehung neu sortieren kann, sich sozusagen neu aufladen kann. Wir spüren diesen Verlust täglich wie kleine, brennende Verletzungen auf unserer Seelenhaut. Es ist so, als ob zwei Elektromagneten langsam der Antrieb genommen wird und die Verbindung scheinbar schwächer und schwächer wird. Das macht es uns so schwer, damit umzugehen. Denn wir kennen nicht das Maß der nötigen Entladung, oder gar den „Wendepunkt“. Und so ist in diesem Prozess auch immer ein Stück Angst unser täglicher Begleiter, dass zu viel Energie geht, bevor wieder ein Prozess des neuen Aufladens beginnt, bevor sich dieses System auf ein gleichberechtigtes, jetzt erwachsenes Miteinander eingestellt hat.

In dieser Zeit hilft es mir, Vertrauen zu haben in die unendliche Energie, die in der Beziehung zu unseren Kindern steckt. Denn diese Energie heißt Liebe. Und die Liebe sorgt dafür, dass wir in diesem System nie den Kontakt zueinander verlieren, sie entstand in dem Moment der Gewissheit eines neuen Lebens und wuchs weiter über die Jahre zu einem untrennbaren Band zwischen uns, ein Band, das uns halten wird, auch wenn wir vielleicht in diesem Reset-Prozess immer mal wieder ganz kurz den Kontakt zueinander suchen müssen, weil wir manchmal zweifeln auf diesem Weg und glauben, dass er verloren geht.

Vertrauen in den Augenblick

Da auch ich gerade mitten in diesem Prozess stecke, kann ich dir für diese Momente keine allumfassende Lösung anbieten, aber vielleicht eine Idee, mit der ich gut durch diese Zeit komme.

Es ist wie so oft im Leben – es zählt der Augenblick. Denn auch wenn deine Kindern ihren eigenen Weg gehen, werden deine Erinnerungen an ihre Geburt, ihr Aufwachsen, ihr ganzes Leben untrennbar mit dem deinen verbunden sein. Denn Nichts geht wirklich ganz. Ein Teil dieser Zeit wird bleiben. Tief in uns, ganz tief, an einem Ort, für den nur wir selbst den Schlüssel haben. Dorthin können wir uns zurückziehen, wenn wir ein wenig von früher träumen wollen. Alte Fotos anschauen, Strampler nochmal auspacken, die ersten Schuhe rausholen.

Diese Erinnerungen sind in dir und ein sicherer Ort für dich, an den du dich zurückziehen kannst und Kraft und Zuversicht finden für das, was da noch kommt.

Denn unser Leben ist ja mit diesem Abschied nicht zu Ende – im Gegenteil, wir haben noch so viel vor uns.

Denn wie meine Kinder, habe auch ich mir in diesem Prozess schleichend wieder mehr Freiräume gesucht und auch gegeben. Ich bin öfter mit meinem besten Freund ausgegangen, habe mir mehr Zeit für mich gegönnt. Für Sport, für das Schreiben, für meinen Garten. Wenn man es genau nimmt, habe auch ich mich so auch ein stückweit verabschiedet. Nach und nach, vielleicht nicht mit jeder Woche, aber vielleicht jedem Jahreswechsel, den ich gemeinsam mit meinen Kindern erlebt habe.

Und ich weiß nun: Dieser Abschied ist kein endgültiger, er ordnet die Dinge in der Eltern-Kindbeziehung nur neu. 

Es ist der Kreislauf des Lebens, den wir nun vor uns sehen, einen den wir auch gegangen sind. Denn auch ich stand einst in der Tür meiner Eltern in unserer Wohnung in Leipzig-Grünau, damals, vor nun fast 30 Jahren. 

„Tschüß Mama“ habe ich damals gesagt, bin gegangen und doch geblieben. Gefühlt ist das noch gar nicht so lange her. Wenn ich heute meine Mutter frage, wie das damals für sie war, bekomme ich auch die Antwort auf meine Fragen heute:

„Es war schwer, Stefan, sehr schwer. Ich wollte dich nicht gehen lassen, aber du bist ja auch nie wirklich gegangen. Du warst zwar nicht mehr hier, aber doch immer da. Ich brauchte nur ein wenig Zeit dafür, das so sehen zu können“.

Die Antworten sind in jeder Zeit andere, die Wahrheit dahinter ändert sich jedoch nicht. Das heißt nicht, dass es nicht weh tut. Nein. Das heißt nur, dass es nun anders wird.

Irgendwie bin ich langsam auch wieder neugierig auf das, was da noch kommt. In die Tränen des Abschieds mischt sich auch ein wenig Sehnsucht. Wieder Neues wagen. Wieder mehr Risiko. Wieder mehr ich. Ein bisschen kann ich mich schon fast darauf freuen. Und ein bisschen habe ich aus diesem langen Abschied auch schon wieder gelernt.

Zurück in deine Kindheit: Ein buch über das Loslassen und die Liebe zu einem dir wichtigen Menschen

Es wird anders sein, aber es wird auch gut sein

Sicher, es wird anders dann sein, so ohne täglich die Kinder um sich zu haben, aber es gab ja einmal eine Zeit in meinem Leben, in der das schon einmal so war. So ungewohnt die ersten Jahre als Vater waren, so neu wird sich die nun kommende Zeit anfühlen. Dabei bin ich natürlich noch immer Vater, mit ganzem Herzen. Das Vater sein wird nur anders sein. Insofern lasse ich nicht meine Rolle los, sondern nur die Art, wie ich sie bislang gelebt habe. Weniger Schnürsenkel, dafür mehr gemeinsam Konzerte erleben, vielleicht eine neue Wohnung einrichten, im Tischtennis verlieren und dabei doch so viel gewinnen. Ich werde weiter da sein. Nah sein. Jeden Tag. Hier in meinem Herzen und gerne auch Hand in Hand oder mit einer Umarmung. Ich bin da. Und selbst wenn ich irgendwann nur noch eine Geschichte bin, werde ich auch dann noch immer da sein. Deswegen freue ich mich darauf, dieser Geschichte noch viele Kapitel hinzuzufügen. Neue Dinge, eigene Dinge. Dinge, für die lange keine Zeit mehr war.

In meinem neuen Alles wird gut Buch habe ich darüber so geschrieben: „Ohne, dass der Baum die Frucht in Frieden und Liebe gehen lässt, könnte sich dieses neue Leben keinen eigenen Platz auf dieser Erde erobern.“

Mit diesem Abschied beginnt also auch wieder etwas Neues. Und dieser Abschied lehrt uns, wieder uns selbst zu sehen. Die Stille in uns zu nutzen.

Damals, es ist noch gar nicht so lange her, da haben wir uns mehr Zeit gewünscht. Es hat ein wenig gedauert – aber jetzt, jetzt ist sie wieder da, die Zeit für dich selbst. Ein großes Geschenk, verpackt in einem ebenso großen Abschied.

Wenn wir den Mut finden, es auszupacken, das darum befindliche Band ein wenig zu lockern, werden wir sehen können, was das Leben noch für uns bereithält, werden wir bereit sein für das, was da noch kommt. Für uns, für unsere Kinder und auch deren Kinder.

Und in den Momenten, in denen wir uns einfach nur zurücksehnen in diese Zeit, die wir gerade langsam loslassen, können wir uns ja dort einfach immer einmal selbst besuchen.

Dafür sind die vielen „Plings“ auf meinem Handy eine tolle Sache. Fotos. Videos. Gerne auch die zahllosen Kuscheltücher, Teddys, Briefe oder Bilder. Denn mit ihnen kann ich noch einmal dort sein, wo es „damals“ so schön war. Für mich ganz alleine. Dort vielleicht auch ein wenig weinen. Oder Lachen. Mich erinnern. Um dann wieder zurückzukommen. Mit der Gewissheit, dass alles gut so ist, wie es ist und dem Vertrauen, dass alles gut werden wird, was ich heute noch nicht so sehen kann.

Ganz einfach:

Weil Gutes aus Gutem wächst.

Irgendwann werden dann auch meine Kinder auf diesem Grat stehen, dem schmalen, unsicheren, dem zwischen Loslassen und dem Wunsch festzuhalten. Sie werden Orientierung suchen und mich dann vielleicht fragen: „Papa, wie war das eigentlich für dich, damals, als ich gegangen bin?“.

Dann werde ich eine Hand auf meine linke Brust legen und sagen:

„Weißt du, es war schwer, wirklich schwer, dich gehen zu lassen. Aber es war OK. Denn du bist nicht wirklich gegangen. Du warst und bist immer da. Hier, in meinem Herzen. Ich brauchte nur ein wenig Zeit, um das so sehen zu können.“

Alles wird gut. Bis bald,

Stefan