Abends nach getaner Arbeit wird der Stift zur Seite gelegt und das eigentliche Leben darf kommen. Verabredungen, Fernsehen, abschalten, nichts mehr hören und sehen – der Stress geht weiter oder der Stress des Tages wird erst gar nicht verarbeitet. Abends nach getaner Arbeit wäre allerdings die richtige Gelegenheit, den Tag Revue passieren zu lassen, den Kindern zuzuhören, mit dem Partner zu reden. Es wäre die richtige Gelegenheit, den Tag bewusst abzuschließen und sich noch ein paar Fragen zu stellen und die Antworten in sein inneres Tagebuch zu übernehmen:

Was ist mir heute gelungen?
Was lief nicht so gut?
Wo könnte ich etwas ändern?
War ich glücklich?
War ich gereizt?
Wie war dieser Tag, dieses Bruchstück in meinem Leben?

Schöne und unschöne Momente können noch einmal betrachtet werden und zwar mit ein bisschen Abstand, frei von negativen Emotionen. Eine Art inneres und lebendiges Tagebuch zu führen, macht viele Verhaltensweisen bewusst, die sich sonst gerne im Nebel des Vergessens auflösen, obwohl sie sich nicht wirklich auflösen. Nichts löst sich von alleine. Auch die Wohnung räumt sich nicht von alleine auf. Da will geputzt, sortiert, weggeworfen werden, ehe sich Berge von Altlasten anhäufen. Warum sollte es beim Unterbewusstsein anders sein? Tag für Tag nehmen wir neue Eindrücke auf. Tag für Tag werden wir mit unserem eigenen Verhalten konfrontiert. Und Tag für Tag sollten wir uns die Frage stellen: War das ein guter Tag?

Bei der Arbeit sind wir daran gewöhnt, an Standards gemessen zu werden. Wir werden mit Erwartungshaltungen von Kollegen und Vorgesetzten konfrontiert. Immer geht es irgendwie um die Frage, ob wir dem, wofür wir bezahlt werden, gerecht werden. Dabei kann die Frage nach „werde ich mir selbst gerecht?“ durchaus untergehen. Das innere Tagebuch bietet die Möglichkeit, Bilder zu schaffen, sich das mögliche Leben vorzustellen, um es mit dem Realleben zu vergleichen. Dabei geht es nicht darum, Utopien aufzubauen und sich in die Fantasie zu flüchten, sondern sich ernsthaft mit den Fragen zu befassen: Wie stelle ich mir mein Leben vor und wie ist mein Leben tatsächlich? Bin ich auf der richtigen Spur oder habe ich sie längst verlassen?

Ein inneres Gefühl von Unzufriedenheit hängt dabei immer mit der Beantwortung dieser Fragen zusammen. Je weiter der Weg zwischen Wunsch und Wirklichkeit, desto mehr sticht es im Magen. Wunsch und Wirklichkeit können allerdings Meilen voneinander entfernt liegen und es wäre Irrsinn anzunehmen, dass einem Wusch grundsätzlich die Wirklichkeit folgen muss. Es gibt Wünsche, die weder erfüllbar noch umsetzbar sind, weil wesentliche Steine zur Errichtung des Schlosses fehlen. Eine Frau, die unfruchtbar ist, mag es als höchste Erfüllung ansehen, doch noch irgendwie ein Kind zu bekommen. Ein einfacher Arbeiter träumt vom Lamborghini, den er sich möglicherweise niemals erlauben kann.

Wünsch Dir was!

Es ist legitim, große Wünsche zu haben. Träumen hinterherzujagen, deren Erfüllung jede Wahrscheinlichkeit überholt, ist allerdings nichts als Zeitverschwendung. Glücklich kann so keiner werden. Das Unterbewusstsein kennt das eigene Potential, es weiß über möglich und unmöglich und es lässt sich nicht mit betrügerischen Hirngespinsten abspeisen. Es fordert Wahrheit. Das innere Tagebuch lässt sich mit Bildern füllen, die mehr sind als nur der aktuelle Abgleich von Wunsch und Wirklichkeit. Neben dem Jetzt gibt es eben auch Bilder aus der Vergangenheit, insbesondere dann, wenn Wunsch und Wirklichkeit sich deutlich unterscheiden. Ich habe lange Zeit bereut, mein Studium abgebrochen zu haben und mir auch noch nach meiner Scheidung überlegt, es wieder aufzunehmen. Im Grunde war das vollkommen unmöglich. Der Zug war bereits abgefahren. Dieser Gedanke, dass ich es erneut aufnehmen könnte, blockierte mein Denken und ließ mich nicht nach neuen Ufern Ausschau halten. Gleichzeitig hatte ich ebenfalls den Wunsch, Schriftstellerin zu werden, schrieb zwar vor mich hin, machte aber nichts, um irgendwie im Literaturbetrieb in Erscheinung zu treten. In mir rumorte es oft und da gab es eine Menge an Unzufriedenheit.

Den Gedanken an das Studium ließ ich irgendwann los. Das Schreiben blieb weiterhin meine Tätigkeit im Elfenbeinturm, weit ab von der wirklichen Konfrontation mit dem Leben da draußen. Vermutlich wollte ich entdeckt werden, ohne dafür irgendwas zu tun. Ich stellte mir vor, wie ich Lesungen hielt, durch die Welt reiste, ohne nur den ersten Stein zu Verwirklichung meiner Vorhaben gelegt zu haben. Der Abgleich von Wunsch und Wirklichkeit war ernüchternd. Das innere Tagebuch ist nicht als eine Art Märchenstunde gedacht. Es sollte mit Bildern gefüllt werden, die die Wirklichkeit nicht vom Tisch fegen. Nicht die Frage: Was möchte ich sein?, ist wesentlich, sondern die Frage: Was kann ich sein? Es geht um erreichbare Ziele und keine Fantasiegebilde. Und das beginnt im Kleinen. Es ist nicht damit getan, abends zum Schluss zu kommen, dass man sich über den Tag hier und dort möglicherweise falsch verhalten hat. Entscheidend ist herauszufinden, warum man sich so verhalten hat. Jedes Verhalten hat nämlich einen Grund und erst, wenn dieser Grund aufgedeckt wird durch eine achtsame Beschäftigung mit den inneren Regungen, lässt sich das Verhalten ändern. Der Wunsch alleine führt nur selten zum Ziel.

Auch Schwachstellen können sympathisch sein

Ich gehe jetzt in die Welt hinaus, nehme an Literaturausschreibungen teil, veröffentliche in Literaturzeitschriften, erhalte ein Stipendium für Schriftsteller. Mein Begreifen hat eingesetzt, dass ich bestimmte Dinge machen muss, wenn ich mich meinem Ziel nähern möchte, einem tatsächlich in der Realität umzusetzenden Ziel. Und tatsächlich frage ich mich abends: Was habe ich getan, um mich diesem Ziel zu nähern? Habe ich viel dafür getan, bemerke ich Zufriedenheit in mir. Habe ich wenig getan, ohne dass es dafür einen erkennbaren Grund gab, spüre ich das Gegenteil. Achtsam sein inneres Tagebuch zu führen, erfordert die Bereitschaft zum Umgang mit sich selbst. Die eigenen Schwachstellen zu erkennen, bedeutet nicht, sie unbedingt ändern zu müssen. Auch Schwachstellen können sympathisch sein. Aber überall da, wo Unzufriedenheit aufflackert, ist der Wille gefragt, den Tatsachen ins Auge zu sehen und zu erkennen. Die Verantwortung für das eigene Leben liegt bei jedem selbst. Jeden Tag lassen sich Dinge verändern, jeden Tag lassen sich neue Erkenntnisse gewinnen.

Was habe ich heute für mich getan?, ist eine wundervolle Ablenkung von der Frage: Was haben mir andere heute getan? Gerne wird betrachtet, wie schwer Kollegen, Vorgesetzte, Kinder, Partner, Nachbarn einem das Leben machen können. Aber ist das überhaupt möglich, dass von Außen das Innen beträchtlich gestört wird?

Oder haben wir nur vergessen, die Tür zu schließen?