Zur Begrüßung und zum Abschied, leidenschaftlich, freundschaftlich, leidvoll, mütterlich, zum ersten Mal, zum letzten Mal, bedeutungsvoll oder nebenbei: Der Kuss ist eine Konstante des menschlichen Miteinanders und dabei so verschieden wie die Küssenden selbst.

Was gleich zu Beginn verwundern mag: Küssen ist kein globales Phänomen. Zumindest nicht allumfassend – obwohl es tief in den menschlichen Genen verankert ist. Neunzig Prozent der Menschheit kennt den Kuss als Zeichen von Zuneigung oder als Bestandteil derSexualität. Die übrig gebliebenen erschnuppern und erschmecken ihren Partner nicht durch einen Kuss. Denn das ist, was die Evolution sich bei der Lippenberührung wohl „gedacht“ hat: Beim Küssen stellen wir über Geruch und Geschmack die Immunfähigkeit des Gegenübers und damit seine genetische Eignung als Partner fest. Wann und wie genau der erste Kuss der Menschheit aussah, wird wohl nie in aller Genauigkeit bekannt werden. Fest steht, dass der „erste Kuss“ per se eine gewichtige Gemarkung bedeutet. Ein Kuss ist ein Kuss ist ein Kuss. Aber was bedeutet er nun?

Der erste Kuss

„Und, habt ihr euch geküsst?“ Eine Frage wie eine Fahrscheinkontrolle in der Achterbahn der Gefühle. Ein Kuss, das suggeriert die Frage, ist ein Meilenstein, eine Sache von größerer Bedeutung. Er birgt Hoffnungen und Versprechen, sorgt für Enttäuschungen und Missverständnisse. Im Mittelalter wurden Verträge mit Küssen beschlossen. Als Ritual bei der Eheschließung tun sie es feierlich noch bis heute.

Erste Küsse. Die, die sie noch nicht hatten, zittern ihnen entgegen. Die, die sie genossen, stellen ihren Kanon auf. Es wird gefeixt und getuschelt, ausgewertet und gestaunt. Stürmisch oder vorsichtig, nass, mit viel oder wenig Zunge – wie man „möchte geküsset sein“, das wusste schon Paul Fleming, erfordert Mut und Offenheit zum Erfahren. Und letztendlich wissen nur die Küssenden, wie es ihnen am besten gefällt. Gut oder schlecht gibt es beim Küssen nicht. Nur die Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen, einander zu verstehen und aneinander zu wachsen.

Spielereien wie Wahrheit oder Pflicht, Flaschendrehen, Auf-Bruderschaft-Trinken und geschickt platzierte Mistelzweige sorgen dafür, dass sich selbst der Ängstlichste dem Kuss irgendwann nicht mehr entziehen kann und bieten eine für alle Teilnehmer verpflichtende Gelegenheit, dem inneren Gefühl unter dem Deckmantel der Spielregel freien Lauf zu lassen. Und wenn man einen halb verrutschten, mit zusammengepressten Lippen „ersten Kuss“ schüchtern und voller Herzklopfen empfing oder gab, fragte man sich voller Besorgnis, ob auch der zweite und dritte so sein wird und ob die Welt sich nicht irrt, wenn sie so ein Theater darum macht.

„Es gibt Dinge, die man nur sagen kann, wenn man sich küsst, weil die tiefsten und reinsten Dinge vielleicht nicht aus dem Herzen hervorkommen, wenn ein Kuss sie nicht ruft.“
Maurice Maeterlinck

In Zeitschriften gab es Anleitungen, die den Ekel und die Unsicherheit nicht so richtig überwinden halfen – bisher kannte man die Zunge als Instrument zum Eisessen und zur weit herausgestreckten Beleidigung. Mädchen waren Ih, und Jungs waren Bäh und die feuchten Schmatzer der Tante sowieso. Das große Irren und Wirren der Adoleszenz. Den Lesebegeisterten mochte die Poesie einen hilfreichen Zugang geben. Denn Küssen, so erfuhr man meist später am eigenen Leib, war mehr als ein einstudierter Ablauf oder eine mehr oder minder feuchte Mundhöhleninspektion, sondern ein Ausdruck tieferer Gefühle, an die sich heranzutasten die wohl anspruchsvollere Aufgabe war. Und schließlich kam er, der erste Kuss, der das große Theater schließlich rechtfertigte. Bei dem inneres und äußeres Gefühl zusammenführten zu einem denkwürdigen Ereignis, das sich schnellstmöglich wiederholen sollte.

Der „ersten Küsse“ gibt es viele und immer wieder einen neuen. Es gibt den ersten nach der Geburt, den vor und den nach der Hochzeit, es gibt ihn nach dem Streit und vor dem Streit, vor und nach jedem Sonnenauf und -untergang. Wie schlimm wäre es, den tausendsten nicht mit ebensoviel Hingabe und Herzklopfen zu genießen wie den ersten?

Rote Lippen

Haben wir einmal mit dem Küssen angefangen, wollen wir so schnell nicht wieder aufhören, denn Küssen reduziert Stress und schüttet das Bindungs-Hormon Oxytocin aus. Etwa 250 Millionen Bakterien wandern von Mund zu Mund, 39 Muskeln sind aktiv, 17 davon allein in der Zunge. Der Puls erhöht sich von 70 auf 150 Schläge, der Kreislauf kurbelt. Küssen ist also praktisch und gesund – häufig knutschende Menschen leben nach wissenschaftlichen Erkenntnissen sogar länger. Etwa 6,4 Kalorien pro Stunde verbraucht der Mensch beim Küssen. Die wissenschaftlichen Hintergründe des Kusses reichen der Anmut und Freude in der Praxis sicherlich nie das Wasser und Fitness als Angabe von Gründen für einen Kuss hat wohl eine bedeutend geringe Erfolgsquote, aber vielleicht gibt die Kenntnis um die Fakten manchmal den richtigen Impuls.

Den Weltrekord für den längsten Kuss hält übrigens das thailändische Duo Ekkachai und Laksana Tiranarat. Im Stehen küsste sich das Paar ununterbrochen über 58 Stunden, 35 Minuten und 58 Sekunden. Wer das durchgestanden hat, läuft wahrscheinlich auch einen Marathon zur Goldenen Hochzeit.

Kuss-Kultur

Rekorde und Stoppuhren sind dem gefühlvollen Verschmelzen zweier Lippenpaare (und Seelen) gemeinhin eher antagonistisch entgegen gestellt. Ein Kuss in der Liebe zeigt die Verbundenheit zweier Menschen. Er ist wortlose Kommunikation, intime Zärtlichkeit und gegenseitiger Vertrauensbeweis von ureigener Poesie.

Ein öffentlich gegebener Kuss wird zum Akt mit Symbolcharakter, der sich in seiner Bedeutsamkeit durch die Kulturgeschichte des Menschen ziehen kann. „Küssen kann man nicht alleine“, singt Max Raabe „und ich sag dir auch den Grund. Küssen – das geht auf keinen Fall alleine, denn dafür braucht man einen andern Mund.“ Nun, ein Mund muss es nicht zwangsläufig sein, der geküsst wird. Ebenso prägend – wenn auch nicht für zwei Menschen allein – können Küsse auf einen Pokal, auf Wangen, Schuhspitzen, Handrücken und heilige Objekte sein. Oder von Nase zu Nase, wie bei nordamerikanischen Stammeskulturen.

In die Geschichte eingegangen sind Küsse, die Hierarchien überwanden oder besiegelten, die Politik beeinflussten, Popgeschichte schrieben. Der Bruderkuss zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker, Papst Franziskus, der am Gründonnerstag im Jahr 2016 die Füße von zwölf geflüchteten Menschen in Castelnuovo di Porto küsste, bekennende Küsse auf dem Christopher Street Day, Clark Gable und Vivien Leigh, Gustav Klimt und Schillers Kuss der ganzen Welt.

„Ich verstehe deine Küsse und du meine, und das ist die Sprache des Gefühls.“
Shakespeare

Nicht immer stößt ein Kuss auf öffentlichen Zuspruch. In der Renaissance kamen Küsse in der Öffentlichkeit aus der Mode, weil der Zusammenhang von Sekretaustausch und Pestverbreitung ruchbar wurde. Bei den Japanern gilt der Kuss als Vorspiel und ist in der Öffentlichkeit verboten. In Boston sind Küsse vor einem Kirchengebäude untersagt und in Michigan und Conneticut ist es verboten, sich am Tag des Herrn zu küssen. Im Film dagegen gilt der Kuss schon lange nicht mehr als explizit. Der erste Filmkuss 1896 zwischen May Irvin und John Rice, der ironischerweise in dem Streifen „Der Kuss“ über die Leinwand flimmerte, löste einen Skandal aus.

Küssen bedeutet sich öffnen im wörtlichsten Sinne. Der Mund wird zur Pforte, mit geschlossenen Augen ist das Vertrauen blind. Und es wird ihn geben in jedem Leben, vielleicht sogar mehrmals: Den Kuss, der enttäuscht oder verletzt. Doch das sollte niemanden zum Verzagen verleiten. Es gibt so viele Küsse auf der Welt. Auch den, der Enttäuschung überwinden lässt und mit der Welt versöhnt. Er wird die dornröschenhafte Erweckung auf einem neuen Weg sein.

Dieser Artikel stammt aus dem AUSZEIT-Magazin, das noch viele weitere tolle Themen für Euch bereithält.

Weiterlesen:

Wie man durch Vertrauen das Glück finden kann

Jede Liebe hat ihr Lied

Glück und seine vier Gesichter

 

Bildquellen: Photo by S A R A H ✗ S H A R P on Unsplash