Es ist schwer zu schnappen, das Schicksal. Es scheint, als würde es in schnellen Schritten davonlaufen. Am Liebsten würden wir es mit einem Fangnetz überraschen. Für ein kurzes Verhör in die Gegenwart entführen. Es mit all unseren Fragen zu löchern, um einen Blick in die Zukunft zu erhaschen.

Immer wieder beladen wir die innere Balkenwaage mit Argumenten, auf der Suche nach den richtigen Entscheidungen. Zukünftiges bereitet uns Kopfzerbrechen. Das Ungewisse spielt, ob wir wollen oder nicht, eine besondere Rolle in unserem Leben. Es hat etwas Magisches an sich, einen reizvollen Schimmer, dem man sich keineswegs entziehen kann. Werde ich mein persönliches Glück finden, gesund bleiben, vielleicht noch einmal richtig Karriere machen?

All das sind mentale Rätseleien, die unsere Neugier wecken. Über die wir hoffnungsvoll und spannungsgeladen philosophieren, weil wir die dazu passenden Antworten gern hätten. Selbst wenn sie enttäuschen, könnten wir uns zumindest auf sie vorbereiten. Im Rahmen der Vernunft scheint uns der Genuss einer derartigen Voraussicht zunächst vergönnt zu bleiben. Doch wie so oft beginnt der Zauber erst fernab unseres Verstandes.

Die Kunst des Wahrsagens, auch als Mantik bezeichnet, besteht, seit es die Menschheit gibt. Sie kann dabei helfen, eine Brücke zu unserem Schicksal zu schlagen, Unbekanntes zu erforschen, hilfreiche Ratschläge zu empfangen und einen Blick in unser Inneres zu werfen, um gestärkt und vollen Mutes in die Zukunft zu schreiten. Bereits im frühen Mittelalter ließen sich Könige, Kaiser und Aristokraten in verzwickten Entscheidungssituationen von Wahrsagern beraten. Jenem Kollektiv, das sich den Methoden und Techniken zur Prognose zukünftiger Ereignisse verschrieben hat.

Seelsorger

In nassfeuchten Gemächern des Altertums, zwischen massivem Mauerwerk und brodelnden Kesseln liegen alten Erzählungen zufolge die Wurzeln der rätselhaften Fähigkeit verborgen. In geheimnisvolle Gewänder gehüllte, unscheinbare Gelehrte bahnten sich nimmermüde ihren Weg über Stock und Stein. Entlang mächtiger Siedlungen und Handelsstraßen, um das Volk aus den Fängen der Unwissenheit zu befreien. Dabei entfachten die Unergründlichen das Feuer ihrer Gabe oftmals mithilfe überaus unheimlicher Praktiken. Wie der genauen Inspektion ausgeweideter Opfertiere oder dem berühmt-berüchtigten Knochenwurf, bei dem knöcherne Bruchstücke gen Boden geschleudert wurden, in der Hoffnung, sie bildeten nach dem Aufprall zukunftsweisende Anordnungen.


Die (Zukunfts-)Lettern der Haudegen

Schon zu Lebzeiten der schwersten Schurken Nordeuropas wollte man nichts so einfach dem Zufall überlassen. Schließlich galt es, wichtige Schlachten zu gewinnen und den Feind das Fürchten zu lehren. Um die Erfolgsquote diverser Kampfstrategien schon vor der Umsetzung prüfen zu können, ließ das Volk der Germanen die Runen sprechen. Ein in Holz oder Stein gehauenes, kunstvolles Schriftzeichengewimmel mit zukunftsdeutenden Fähigkeiten. Das traditionelle Runenziehen, bei dem ein bedeutungsträchtiges Runensymbol aus einem Lederbeutel gezogen und anschließend analysiert wurde, gilt bis heute als eine der bewährtesten Verfahrensweisen in der Wahrsagekunst. Ganze 24 Ziffern beherbergt das Runenalphabet der Germanen, für welche die auffällige Abstinenz waagerechter und geschwungener Linien charakteristisch ist.


Vertreter des antiken Griechenlands drangen gar in die Traumwelten ihrer Klienten ein. Entnahmen dort den Weiten des Unterbewusstseins relevante Anzeichen für künftige Geschehnisse. Der über ihren Anwendungen schwebende, latente Schauer des Unbehagens trübte das gesellschaftliche Ansehen der Hellseher hingegen keineswegs. Das Volk buhlte förmlich um die Gunst ihrer Dienste. Schließlich brachten die Spähmanöver der Wahrsager Klarheit in die Gefühlswelt der Durchschnittsbürger und Edelmänner.

Mit fortschreitender Dehnung des Zeitstrahls und der zunehmenden Festigung politischer und religiöser Strukturen, verlor der Blick in die Zukunft und damit die Kunst der Zukunftsdeutung immer stärker an Brisanz. Denn auf viele zeitgenössische Fragen gab es plötzlich plausible Antworten. Die Boten des Schicksals verließen allmählich den Lichtkegel der gewohnten Aufmerksamkeit.

Wahrsager, der Phönix aus der Asche

Wer jedoch vermutet hat, die Kunst der Wahrsagung sei im reißenden Strom des Fortschritts untergegangen, wandelt in irrtümlichem Terrain. Denn sie hat uns bis ins 21. Jahrhundert begleitet. In der Zwischenzeit neue Facetten ausgebildet und vielerlei spannende Methoden hervorgebracht. Betritt man heutigentags den Arbeitsplatz eines Mantikers, läuft man beispielsweise nicht mehr Gefahr, im nächsten Moment mit dem Anblick tierischer Beratungskomponenten konfrontiert zu werden. Vielmehr gleicht der Besuch beim Wahrsager dem vertrauten Austausch mit einem Seelenverwandten, eingebettet in angenehm sanfter Atmosphäre.

Der Weitsichtige der Gegenwart gilt als Vermittler zwischen Diesseits und Jenseits. Er kann Informationen aus dem Energiefeld seines Kunden beziehen und mithilfe verschiedenster Wahrsagetechniken individuelle Ratschläge und Anregungen formulieren. Ihm ist es darüber hinaus ein Leichtes, seinen Weitblick für besondere Lebensbereiche zu sensibilisieren. Sei es der quälende Job oder eine neu entflammte Liebe. Um auf alle Bedürfnisse eingehen zu können, wappnet man sich in besagtem Fachgebiet zusätzlich mit einer Auswahl unterschiedlicher Praktiken, die der Beratung zugrunde liegen und deren Charaktere einen ästhetischen Gegenpol zu den Methoden des Altertums bilden.


Quintessenz der Weitsicht

Zügig gerät der Ottonormalverbraucher in wütendes Schnauben, versucht er der Kristallkugel unter konzentrierter Miene Visionen zu entlocken. Ernüchterung macht sich breit und ein fülliges Fragezeichen verweilt im Dunst des Unmutes. Der Buddhismus entschlüsselt benanntes Phänomen mit dem Prinzip des dritten Auges. Nach dem ein jeder die Grenzen der Wahrnehmung zu sprengen vermag, der seinen sechsten Sinn zu schulen und einzusetzen weiß. Mit zunehmender Kompetenz auf geistiger Ebene ist es ein Leichtes, seine Erkenntnisfähigkeit und Intuition für Jenseitiges zu modifizieren. Das dritte Auge wird in Illustrationen häufig auf der menschlichen Stirn platziert. Somit ist es im Stande, sich im Laufe des Lebens immer weiter für Übersinnliches aller Art zu öffnen. Sei es der Blick in die Zukunft durch die Kristallkugel oder einfach nur das Lauschen der geheimnisvollen Stille.


Griff in die Trickkiste

Als oft bestaunt, aber nur selten durchdrungen präsentiert sich das Mysterium des Kartenlegens. Bei dieser altehrwürdigen, chinesischen Technik liegt der Fokus des Geschehens ganz in der magischen Vielfalt des verwendeten Tarot-Blattes. Imposante Illustrationen zieren das Antlitz der Karten, denen allesamt eine bestimmte, teilweise sehr komplizierte Bedeutung zugeordnet ist. So steht das Motiv „Sieben der Schwerter“ beispielhaft für einen womöglich zeitnah eintretenden Akt der Hinterlist. Aus dem Kreise der Mitmenschen, auf den man sich besser gefasst machen sollte. Im Laufe der Sitzung bieten die meist sieben, H-förmig angeordneten Karten dann ausführliche und vielsträngige Interpretationsmöglichkeiten. Die dem Neugierigen nach und nach unter Hochspannung vermittelt werden.

Blick in die Zukunft

Setzt man den Wühlvorgang in der Schatzkiste schicksalsempfänglicher Utensilien fort, ist es beinahe unmöglich, das offizielle Zentralobjekt der Wahrsagung zu verfehlen: die Kristallkugel. Anmutig glänzend und auf einem Sockel aus Samt thronend, begegnet sie uns in einer Vielzahl bekannter Märchen und Sagen. Doch nur die Wenigsten sind über die ursprüngliche Verwendung der erlesenen Kugel im Bilde. Der aus Bergkristall geschlagene Körper diente nämlich zunächst lediglich als eine Art mittelalterliches Vergrößerungsglas. Noch bevor er sich den Wahrsagern als Spiegel des Schicksals offenbarte. Darüber hinaus werden der Kugel Züge des Eigensinns zugesprochen. Was an manchem Tag durchaus dazu führen kann, dass dem tätigen Mantiker weisende Bilder einfach verwehrt bleiben.

Sollten alle Kugeln irgendwann einmal platzen, ist allerdings immer noch Verlass auf die Fertigkeit des Handlesens. Die in Fachkreisen auch unter dem Namen der „Chiromantie“ verkehrt. Die reliefartigen Strukturen und individuellen Vertiefungen unserer Hände erzählen eine Geschichte in fremdartiger Sprache. Deren komplizierte Übersetzung den Fähigkeiten der Handleser obliegt. Die rechte und linke Hand stehen hierbei sinnbildlich für Vergangenheit und Zukunft. Sie sind neben der spitzfindigen Betrachtung der Handformen und Handlinien elementarer Bestandteil dieser spezifischen Form der Weissagung. Welche die anderen vielfältigen Farben der traditionsreichen Kunst bei Weitem nicht erahnen lässt.


Rätselhafte Schwünge

Kreisende, triebhafte Schwünge lassen uns schläfrig werden, ins Land der Träume taumeln, möglicherweise auch hypnotisch erstarren. Doch wer hätte gedacht, dass uns das Kultobjekt des Pendels bis ins Kämmerlein des Hellsehers geleiten würde? Das altbekannte Hypnoseutensil und nebenbei todschicke, modische Accessoire besitzt wahrhaftig ein verstecktes Talent in der Mantik. Frei werdende Energien infolge kraftvoller Schwingungen lassen die Fingerspitzen kribbeln. Und verleiten das Unterbewusstsein zu Antworten auf die ganz alltäglichen Fragen des Lebens. „Unkompliziert und benutzerfreundlich“ müsste das Bewertungsprädikat für diese spezielle Form der Wahrsagung lauten. Denn zur erfolgreichen Anwendung bedarf es lediglich eines bergkristallinen, kettenumschlungenen Schwingkörpers und den tatsächlich erlernbaren Grundfertigkeiten des Pendelns.


Entschwinden

Es fällt sicherlich schwer, sich auf die Thematik der Zukunftsdeutung einzulassen. Wenn sich der innere, spirituelle Geist nur selten zeigt oder auch gar nicht dafür empfänglich ist. Zugegebenermaßen beschränken sich unsere ersten thematischen Assoziationen sogar gern auf klischeehafte Bilder. Von betagten Herrschaften auf wenig namhaften TV-Sendern, die zwischen pulsierender Reklame für Telefon-Hotlines Weissagungen aller Art anbieten. Doch sind wir einmal ehrlich zu uns selbst, basiert der Großteil unserer Vorurteile schlichtweg auf einem Gerüst der Unkenntnis.

Möglicherweise schwingt – auch angesichts der emotionalen Dimensionen dieses Themas – ein nicht außer Acht zu lassender Hauch der Ehrfurcht mit. Der uns an einer intensiveren Auseinandersetzung hindert. Wer weiss schon, was er am Ende zu hören bekommt? Und was es bedeutet? Womöglich sind aber genau das die perfekten Voraussetzungen für einen Kurztrip ins Künftige. Der den Begriff des Schicksals für jedermann neu zu definieren vermag. Der Zauber des Ungewissen ist allgegenwärtig und kann Wegweiser in tiefen emotionalen Tälern sein. Uns in einen Rausch der Gefühle versetzen und die Tür zu unseren intimsten Bedürfnissen öffnen. Wir müssen ihm lediglich mit offenem Herzen begegnen.

Dieser Artikel stammt aus dem AUSZEIT-Magazin, das noch viele weitere tolle Themen für Euch bereithält.

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