Meine Tochter war ungefähr vier Jahre alt, etwas jünger. Zu ihrer Geburt hatte meine Schwester ihr einen kleinen farbigen Plüschbären in blau-rosa geschenkt. Dieser Bär lag immer in ihrem Bettchen, direkt neben ihr. Als sie älter wurde, war der Bär – von Mamas Singen abgesehen – ihre Einschlafhilfe.

Dieser Bär begleitete sie immer. Ich sehe sie in meinen Gedanken durch die Wohnung laufen, den Bären in der linken Hand, einen tragbaren Kassettenrecorder, aus dessen Lautsprecher Kinderlieder tönten, in der rechten Hand.

Meine Tochter wurde älter und der Bär auch. Er zeigte diverse Gebrauchsspuren, wurde von mir zahlreich mit Garn und Nadel verarztet und landete regelmäßig in der Waschmaschine, um die noch annähernd vorhandene Ursprungsfarbe kurzzeitig zum Leuchten zu bringen. Einmal saß meine Tochter eine volle Stunde vor der Waschmaschine und sah dem Bären zu, wie er im Wasser um sein Überleben kämpfte und schließlich mit 1000 Umdrehungen durch die Trommel geschleudert wurde. Ich sah ihr die Sorge an, der Bär könne diese Prozedur nicht unbeschadet überstehen.

„Komm mit, meine Zahnbürste.“

Als die Risse im Stoff immer größer wurden, ein Ohr nur noch an wenigen Fäden flatterte, kaufte ich vom gleichen Hersteller exakt den gleichen Bären in grün-rosa. Ich freute mich ein neues Exemplar gefunden zu haben und überraschte sie damit. „Guck mal, was ich dir gekauft habe.“ Sie sagte nichts, hielt ihren halb aufgelösten Bären in der Hand und sie sah mich an, als wäre ich wahnsinnig geworden.

Das braucht vielleicht ein paar Tage, dachte ich. Es benötigte weder Tage noch Monate noch Jahre. Der neue Bär saß unbeachtet auf einem Regal im Kinderzimmer. Angenommen wurde er von ihr nie. Der alte Bär war irgendwann derart zerlöchert, dass er sich immer mehr in seine Bestandteile auflöste. Als sie sich schließlich von ihm trennen musste, spürte ich bei ihr eine Art von Trauer und auch mir tat es weh, diese Entscheidung zu treffen.

Ein Plüschbär ist kein Lebewesen und doch betrachtet ein Kind das völlig anders. „Komm mit, meine Zahnbürste. Bleib stehen, mein Stuhl“, sind Ausdrücke meiner Tochter gewesen, die ich mit ersten von ihr gemalten Bildern und kleinen Geschichten über ihre Entwicklung in einer großen Erinnerungskiste gesammelt habe. Ein Kind befindet sich nach Piaget vom 18. Monat bis zum 4. Lebensjahr auf der Stufe des symbolischen und begrifflichen Denkens. In der gleichen Entwicklungsphase begegnen wir dem Anthropomorphismus. Gegenstände werden vermenschlicht und damit personifiziert. Von einem lieb gewonnenen Gegenstand Abschied nehmen zu müssen, kann einem Kind durchaus ein Problem bereiten. Es empfindet auf eine Art eine Trauer, die zwar nicht mit den Phasen der Trauerarbeit zu vergleichen ist. Ein Schmerz von „gehen lassen“, wird aber offensichtlich empfunden.

Für den Erwachsenen ist das nicht immer nachvollziehbar. Der Unterschied des Abschieds von Oma oder Plüschbär ist signifikant. Das Kind erlebt es in seiner Welt anders. Mit dem Bären hat es viele Stunden verbracht, womöglich mehr als mit der Oma. Dem Bären wurde das persönliche Leid geklagt. Er war die vertraute „Person“, die immer zur Verfügung stand, wenn das Kind sich unverstanden, alleine, aber auch glücklich fühlte.

Dieser Bär war Teil des Lebens – ähnlich einem guten Freund oder Partner. Es ist also nicht damit getan, den Erwachsenen zu spielen und einem Kind zu sagen. „Das ist doch nur ein Gegenstand. Der lebt doch nicht.“ Mit solchen Bemerkungen wird die kindliche Seele verletzt. Das Kind wird mit seiner Wahrnehmung zurückgewiesen. Noch schlimmer: Die normalen Entwicklungsphasen von Wahrnehmung, über Anschauung, Handeln bis hin zum abstrakteren Denken werden in ihrer vorhandenen Normalität angezweifelt. Vom Kind wird mit der Forderung nach erwachsener Realität erwartet, was es nicht leisten kann. „Das ist nur ein unbelebtes Objekt.“ Das ist es nicht.

Der Tod gehört zum Leben dazu.

Der vermeintliche Tod des Bären ist auch eine Vorbereitung auf den wirklichen Tod eines Menschen. Fragen, Ängste, Gedanken zum Tod können kindgerecht thematisiert werden und auch eigene Gedanken zum in unserer Gesellschaft gerne tabuisierten Thema Tod lassen sich aufgreifen. Das Vermeiden von Themen, über die nur ungern gesprochen wird, wischt nicht das Thema vom Tisch. Der Tod gehört zum Leben dazu. Er kann nicht ausgeschlossen werden und wird in anderen Gesellschaften teils viel selbstverständlicher als Teil der Normalität anerkannt.

Dem Tod wird mit Respekt begegnet, anstatt ihn zu ignorieren. In kleinen Dörfern in Italien ist es auch heute noch völlig normal, dass der Tote in einer Art Straßenzug durch das Dorf getragen wird. Auch an der Trauerfeier Unbeteiligte reagieren auf dieses Ereignis. Sie halten in ihren Tätigkeiten an, unterbrechen ein Gespräch. Stillstand – ein Mensch ist gegangen. Woran liegt das, dass wir in unserer so zivilisierten Welt ein Thema, das jeden von uns betrifft, versuchen in eine dunkle Ecke zu drängen, damit es dort in Vergessenheit gerät? Ist es der Mythos der eigenen Unverletzbarkeit, der für gewöhnlich bei Jugendlichen vorkommt, die den Führerschein frisch in der Tasche auf regennasser Straße mit zweihundert Stundenkilometern um die Kurven fliegen? Haben wir das Gefühl, alles in unserem Leben kontrollieren zu können, weil wir daran gewöhnt sind, Situationen und sogar Personen in unserem Leben, der eigenen Kontrolle zu unterwerfen?

Ist dieses Gefühl von Macht vielleicht mit dafür verantwortlich, dass wir uns selbst nicht mehr fühlen können, weil wir uns bereits Lichtjahre von unserem eigenen Universum entfernt haben?

Die Kontrolle kann sehr schnell verloren gehen. Manche Situation im Leben verhindert jede Vorbereitungszeit. Sie steht auf einmal im Raum, ohne dass jemand die Tür freiwillig geöffnet hätte.