Noch immer liebe ich den Bahnhof von Baden-Baden. Er ist klein und beschaulich. An Bahnsteig 1 ist ein Café, bei dem man draußen sitzen kann, direkt ein paar Meter von den Zügen entfernt, die am Bahnsteig auf ihrem Weg nach Rastatt oder Karlsruhe halten. Der Abschied naht.

Dieses Café war oft Anlaufpunkt für uns, wenn ich freitags aus Bonn kam. Ein Jahr lang hatten wir eine Fernbeziehung, ehe ich mit meinen Kindern tatsächlich umzog – der Beginn zu einem neuen Leben. Damals im April 2012 war ein Umzug noch nicht in Sicht. Unsere Beziehung war schön, allerdings immer wieder kompliziert und die Probleme kamen von meiner Seite. Ich hatte Schulden, von denen mein Partner nichts wusste, und wie ich einen Umzug finanzieren sollte – einen neuen Job hatte ich zwar bereits – wusste ich nicht. Wir sahen uns Wohnungen für mich und meine Kinder an. Solange die Finanzierung des Umzugs unklar war, konnte ich allerdings auch keine Entscheidung treffen. Ich hätte über mein Problem reden müssen und war dazu nicht in der Lage. Mein Partner war erfolgreich und ich nicht im Entferntesten. Für mich kam nur ein Rückzug in Frage.

Nach der zehnten Wohnungsbesichtigung, bei der ich mich weiterhin nicht entscheiden konnte, reichte es ihm und er sagte: „Vielleicht willst du gar nicht umziehen.“ Ich erwiderte: „Und vielleicht willst du die Beziehung nicht.“ Er sah mich an, Sekunden wurden zu Stunden. „Vielleicht will ich sie wirklich nicht“, sagte er dann und wenig später: „So ist es. Ich will sie nicht.“ Mein Atem stand still. Er begann seine Wohnung aufzuräumen, saugte um mich herum, während ich wie paralysiert am Küchentisch saß. Zwei Stunden später machten wir uns auf den Weg zum Bahnhof. Im Auto sprachen wir kein Wort. Am Bahnsteig angekommen, änderte sich daran nichts. Wir rauchten einige Meter voneinander entfernt, ohne Blickkontakt, als würden wir völlig unabhängig voneinander auf diesen Zug warten, der bald eintreffen und mich aus seiner Welt reißen würde.

Der Zug kam. Kai nahm mich in den Arm. Mein Körper war angespannt und hart. Kurz darauf stieg ich in den Zug und er rief mir hinterher. „Na dann – machs gut.“. Ich suchte mir einen Sitz im Abteil, setze mich an einen Fensterplatz und ich sah ihn auf dem Bahnsteig stehen, in einer ähnlichen Starre, die von mir Besitz ergriffen hatte. Er wirkte unendlich traurig. Erst im Zug realisierte ich, was vorgefallen war. Ich war auf das, was sich ereignet hatte, nicht im Geringsten vorbereitet. Wir hatten uns verabschiedet – wie es aussah für immer. Mir fiel ein Gedicht von Rainer Maria Rilke ein:

„Wie hab ich das gefühlt, was Abschied heißt. Wie weiß ich´s noch: ein dunkles, unverwundenes, grausames Etwas, das ein schön verbundnes noch einmal zeigt und hinhält und zerreißt.“

Und genau das fühlte ich. Die Bilder der letzten neun Monate flogen an mir vorüber und lösten sich auf. Nicht nur die Erinnerung löste sich auf, auch ich löste mich in mir auf. Mir gelang es nicht, mich zu beherrschen. Tränen flossen über mein Gesicht, Stunde um Stunde, während mich der ein oder andere Blick eines Mitreisenden traf. In Bonn angekommen, schaffte ich es mit dem Gepäck kaum nach Hause. Ich war völlig entkräftet, zitterte, obwohl es warm war. Mir gelang es nicht, diese Bilder aus meinem Kopf zu verdrängen. Abschied, klang es in meinen Ohren. Das war ein Abschied. Die nächsten zwei bis drei Tage telefonierten wir mehrere Male. Die Stimmung war sehr kühl, schließlich schrieben wir ellenlange Mails und nach einer Woche gab es wieder Licht am Horizont. Eine Woche später fuhr ich wieder zu ihm und ich erzählte ihm endlich, welchen Belastungen ich unterlag. Kurz gesagt: Er lieh mir das für den Umzug benötigte Geld. Seit vier Jahren leben wir glücklich zusammen und ich bin dank seiner Hilfe längst schuldenfrei.

In den ersten Tagen war allerdings noch keine Rede davon, dass die Situation gut ausgehen könnte, eher schien das Gegenteil der Fall zu sein. Ich stand vollkommen neben mir. Aber ich habe drei Kinder und trage nicht nur für mich die Verantwortung. Ich konnte unmöglich den ganzen Tag weinend durch die Wohnung laufen und sie damit konfrontieren. Andererseits stand ich mit meinen Gefühlen in einer großen Leere. Meine älteste Tochter war damals 19 Jahre alt, kurz vor dem Abi, und sehr erwachsen. Sie half mir, kochte, räumte auf, machte mir Mut und sie ließ mich auch in ihren Armen weinen. Das war sehr erleichternd. Wie fühlt er sich an – dieser Abschied? Ich musste dieses Gefühl nur wenige Tage ertragen, die nicht ausgereicht hätten, den Abschied von ihm, von diesem Leben, von all den Vorstellungen der Zukunft, tatsächlich zu verarbeiten. Es hätte Wochen, vielleicht sogar Monate gedauert, diesen Schmerz Stück für Stück in mir aufzulösen. Das blieb mir erspart.

Es gibt zeitlich weitaus längere Abschiede und es gibt Abschiede für immer. Philosophisch betrachtet ist ein Abschied endgültig und er trägt nicht den Hauch einer Spur in sich, eine neue Begegnung zu ermöglichen. Mit dem „Abschied für immer“ ist im Allgemeinen der Tod gemeint. Die meisten anderen Abschiede beruhen auf Entscheidungen aus dem Diesseits. Manche dieser Entscheidungen könnten noch einmal revidiert werden. Auch wenn wir von Abschied sprechen, handelt es sich eher um Verluste, denen durchaus Gewinne folgen können oder es geht um einen Abschluss im Sinne von Loslassen. Meine Überlegungen gehen in verschiedene Richtungen. Ich beschäftige mich mit dem Thema Abschied allgemein und im Besonderen mit dem philosophisch tatsächlichen Abschied, nämlich dem Tod.

Tag für Tag nehmen wir von irgendetwas oder irgendjemandem Abschied. Wir rauchen die letzte Zigarette, trinken das letzte Glas Cola, kündigen unseren Job, ziehen um, trennen uns vom Partner, von Möbeln, von Erinnerungen. Viele dieser Entscheidungen, die täglich getroffen werden, sind umkehrbar. Es gibt fernab vom Tod Verluste, die ebenfalls Gefühle von Abschied oder unfreiwilliger Trennung bewirken, ob Krankheiten, Sachverluste, Unfälle, Brände oder Diebstahl. Der Abschied hat unterschiedliche Auswirkungen. Er kann zu Trauer, Unsicherheit oder Freude führen.

Und mit Abschied werden wir bereits in der Kindheit konfrontiert. Womit wir uns an anderer Stelle beschäfigen werden…